Vertrauen. Niklas Luhmann
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Diesen Ausgangspunkt kann man als unbezweifelbares Faktum als „Natur“ der Welt bzw. des Menschen feststellen und würde damit etwas Wahres aussagen1. Alltäglich vertraut man in dieser Selbstverständlichkeit. Zutrauen in jenem fundierenden Sinne ist für das tägliche Leben Komponente seines Horizontes, Wesensmerkmal der Welt, aber nicht intendiertes (und damit variierbares) Erlebnisthema.
Man kann die Notwendigkeit des Vertrauens auch als wahren und gewissen Grund für die Herleitung von Regeln richtigen Verhaltens ansehen. Sind Chaos und lähmende Angst die einzige Alternative zum Vertrauen, so läßt sich daraus folgern, der Mensch solle, seinem Wesen entsprechend, Vertrauen schenken, wenn auch nicht blindlings und nicht in jeder Hinsicht2. Man gelangt auf diese Weise zu ethischen oder naturrechtlichen Maximen – zu Prinzipien mit eingebauter Zulassung des Gegenteils, deren Brauchbarkeit so umstritten ist.
[2]Eine dritte Möglichkeit ist, die Angst einer Existenz ohne Vertrauen gleichsam spielerisch zu durchdenken und dichterisch auszumalen. Man kann auf diese Weise die Alltagswelt transzendieren und sich von ihrer Auslegung durch die philosophische Tradition distanzieren. Der Blick auf jene Grenzsituation hat Psychologen und Ärzte3, ja sogar bedeutende Denker der Gegenwart fasziniert. In der Tat läßt sich aus schwindelerregenden Vorstellungen eine Art instruktiver Genuß ziehen. Doch bleibt die Instruktion durch den Schwindel getrübt.
Die funktionale Forschung in Psychologie und Sozialwissenschaften findet sich in mancher Hinsicht in der Nähe solcher existenzphilosophischen Bemühungen – vor allem durch ihre Ablehnung des Substanzprinzips. Deshalb muß sie um so größere Sorgfalt darauf verwenden, sich von ihnen abzusetzen4. Ihren eigenen Charakter gewinnen funktionale Analysen durch die Art ihrer Forschungsperspektive und deren Denkvoraussetzungen. Diese Eigenart ist umstritten5 und muß daher in ihren Grundzügen aufgewiesen werden6, bevor wir nach der Funktion des Vertrauens fragen können.
Funktionale Analysen knüpfen nicht an sichere Gründe, bewährtes Wissen, vorliegende Gegebenheiten an, um daraus sekundäres Wissen zu gewinnen, sondern sie beziehen sich letztlich auf Probleme und suchen Lösungen für diese Probleme zu ermitteln. Sie gehen also weder deduktiv noch induktiv vor, sondern heuristisch in einem ganz speziellen Sinne. Als Hebel der Problematisierung dient ihnen die Frage nach der Erhaltung des Bestandes von Handlungssystemen – man könnte auch abstrakter formulieren: [3]die Frage nach der Identität in der wirklichen Welt. Bestand ebenso wie Identität werden dabei nicht mehr als Wesenskern oder als Invarianz begriffen, sondern als Beziehung zwischen variablen Größen, zwischen System und Umwelt. Sowohl Probleme als auch Problemlösungen erhalten in dieser Forschungsperspektive ihren besonderen Sinn nicht durch einen vorausgesetzten invarianten Wesenskern, sondern durch ihre besondere Stellung in einem Gefüge anderer Möglichkeiten; ihr „Wesen“ definiert sich durch die Bedingungen ihrer Ersetzbarkeit. Das Forschungsschema der funktionalen Analyse ist daher, von der Methode her gesehen, für alle Möglichkeiten offen. Ihr Potential für Komplexität scheint unbegrenzt zu sein, und manche Einzelzüge deuten darauf hin, daß in dieser Erweiterung der Kapazität für Komplexität gegenüber dem alltäglichen und dem traditionellen Weltverständnis der zusammenhaltende Grundgedanke aller Aspekte der funktionalen Methode zu finden ist7.
Komplexität ist aber nicht nur das heimliche Motiv, die verbindende Aspiration hinter allen Orientierungsbegriffen der Methode, sie ist zugleich das letzterreichbare sachliche Bezugsproblem der funktionalen Forschung. Denn die Welt als Ganzes, der Universalhorizont allen menschlichen Erlebens8, ist nur unter dem [4]Gesichtspunkt ihrer äußersten Komplexität ein mögliches Problem. Sie ist kein System, weil sie keine Grenzen hat. Sie ist ohne Umwelt, daher nicht bedrohbar. Selbst radikale Umwandlungen ihrer Energieform sind nur als Geschehen in der Welt vorstellbar. Einzig in ihrer Relation zum Identischen-in-der-Welt gibt die Welt als solche ein Problem auf, und zwar durch ihre raum-zeitlich sich entfaltende Komplexität, durch die unübersehbare Fülle ihrer Wirklichkeiten und ihrer Möglichkeiten, die eine sichere Einstellung des einzelnen auf die Welt ausschließt. Unfaßbare Komplexität ist die Innenansicht der Welt, der Problemaspekt, den sie Systemen darbietet, die sich in der Welt erhalten wollen.
Ein zweiter Vorzug des Bezugsproblems der Komplexität ist, daß es dank seiner Abstraktheit und Welthaftigkeit den Unterschied von psychischen Systemen und sozialen Systemen übergreift und damit auch den Unterschied psychologischer und soziologischer Theorien. Wir wissen aus Lebenserfahrung ebenso wie durch wissenschaftliche Forschung, daß die Bereitschaft, Vertrauen zu erweisen, abhängt von psychischen Systemstrukturen, zum Beispiel von solchen, die mit der F-Skala gemessen werden9. Ebenso sicher ist, daß eine psychologische Erklärung allein nicht ausreicht. Denn Vertrauen wird, psychologisch gesehen, aus völlig verschiedenen Gründen erwiesen bzw. verweigert10; und Vertrauen ist in jedem Falle eine soziale Beziehung, die eigenen Gesetzlichkeiten unterliegt. Vertrauen bildet sich in einem Interaktionsfeld, das sowohl durch psychische als auch durch soziale Systembildungen [5]beeinflußt wird und keiner von ihnen exklusiv zugeordnet werden kann. Deshalb müssen wir in eine allgemeinere Theoriesprache ausweichen, die die Begriffe System, Umwelt, Funktion und Komplexität so abstrakt verwendet, daß sie sowohl psychologisch als auch soziologisch interpretierbar sind. Einen ähnlichen Ausweg sucht Talcott Parsons, wenn auch in Richtung auf eine andersartige, stärker strukturell orientierte Theorie eines allgemeinen „Handlungssystems“11.
Der Begriff Komplexität muß deshalb sehr abstrakt definiert werden. Das kann geschehen im Hinblick auf eine Differenz von System und Umwelt schlechthin und im Hinblick auf das Aktualisierungspotential von Systemen. Er bezeichnet die Zahl der Möglichkeiten, die durch Systembildung ermöglicht werden12. Er impliziert, daß Bedingungen (und somit Grenzen) der Möglichkeit angebbar sind, daß also Welt konstituiert ist, und zugleich, daß die Welt mehr Möglichkeiten zuläßt, als Wirklichkeit werden können, und in diesem Sinne „offen“ strukturiert ist. Unter einem Gesichtswinkel läßt sich diese Beziehung von Welt und System als Überforderung sehen und als Bestandsgefährdung problematisieren. Das ist die Betrachtungsweise der funktionalistischen Systemtheorie. In entgegengesetzter Perspektive erscheint dasselbe Verhältnis als Aufbau einer „höheren“ Ordnung von geringerer Komplexität durch Systembildung in der Welt und läßt sich als Selektionsleistung problematisieren. Das ist die Betrachtungsweise der kybernetischen Systemtheorie.
Für jede Art realer Systeme in der Welt, und seien es physische oder biologische Einheiten, Steine, Pflanzen oder Tiere, ist die Welt übermäßig komplex: Sie enthält mehr Möglichkeiten als die, auf die das System sich erhaltend reagieren kann. Ein System stellt sich auf eine selektiv konstituierte „Umwelt“ ein und zerbricht an etwaigen Diskrepanzen zwischen Umwelt und Welt. Dem Menschen allein wird jedoch die Komplexität der Welt selbst