Vertrauen. Niklas Luhmann
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Dies Offenhalten der Welt und die Identifikation von Sinn und Selbstsein in der Welt sind also nur möglich mit Hilfe einer ganz neuartigen Dimension der Komplexität: der erlebten (wahrgenommenen) und verstandenen subjektiven Ichhaftigkeit des anderen Menschen. Der andere Mensch hat originären Zugang zur Welt, könnte alles anders erleben als ich und kann mich daher radikal verunsichern. Über die Fülle sachlich verschiedenartiger Gegenstände und über die Potenzierung dieser Vielfalt durch ihren zeitlichen Wechsel hinaus wird die Komplexität der Welt durch die Sozialdimension, die den anderen Menschen nicht nur als Ding, sondern als anderes Ich ins Bewußtsein bringt, nochmals erweitert. Deshalb werden zugleich mit dieser zusätzlichen Komplizierung neuartige Mechanismen der Reduktion von Komplexität erforderlich – allen voran natürlich die Sprache und das reflexible Selbstbewußtsein als Mechanismen der Generalisierung und der Selektivität.
Eine überzeugende philosophische Erfassung dieses Tatbestandes des alter ego innerhalb der immer schon intersubjektiv konstituierten (und anders nicht vorstellbaren) Welt ist bisher nicht gelungen – auch im Rahmen der sich sehr grundsätzlich darum bemühenden transzendentalen Phänomenologie Husserls nicht13. [7]Die positiven Wissenschaften gehen auf verschiedene Art und Weise von der prinzipiellen Unberechenbarkeit anderer Menschen aus (sofern sie sie nicht einfach ignorieren) und sehen darin ein Problem, das die Funktionen bestimmter Ordnungsleistungen erklärt. Der Versuch von Thomas Hobbes, die Notwendigkeit absoluter politischer Herrschaft zu begründen, hat hierin seine Wurzel, wenngleich er dem Komplexitätsproblem als Sicherheitsproblem eine zu enge Fassung gibt und deshalb absolute Herrschaft als Lösung ohne Alternativen zu Gesicht bekommt. Die von Husserl konzipierte, von Alfred Schütz ausgearbeitete Theorie der intersubjektiv übereinstimmenden Typisierung der Erlebnismöglichkeiten hat diesen Hintergrund einer unberechenbaren Komplexität, die in der Gegenwärtigkeit eines alter ego in der Welt an sich angelegt ist und auf gemeinsame Typen reduziert werden muß. Parsons’ Theorie des sozialen Systems baut ebenfalls auf jenem Grundgedanken auf, und zwar in Form der These von der zweiseitigen Offenheit, der „double contingency“, aller Interaktionen, die eine Normbildung notwendig macht, soll die Komplementarität der Rollenerwartungen sichergestellt werden14. Die neuere wirtschaftswissenschaftliche Organisationstheorie sucht ihn zu berücksichtigen und geht damit über die utilitaristischen Bemühungen um eine Kombination rein individueller Nutzenfunktionen hinaus15. All diese Gedanken können wir in eine einzige [8]Formel zusammenpressen: Auf der Grundlage sozial erweiterter Komplexität kann und muß der Mensch wirksamere Formen der Reduktion von Komplexität entwickeln.
Das ist nicht so zu verstehen, als ob historisch erst das eine und dann das andere aufgetreten wäre, als ob das eine Ursache oder Motiv des anderen sei16. Kausal gesehen ist nur beides zusammen möglich, sich wechselseitig bedingend und bewirkend. Die funktionale Zerlegung dieses einheitlichen Geschehens in einen Problemaspekt (Erweiterung der Komplexität) und einen Lösungsaspekt (Reduktion der Komplexität) dient lediglich als Schema des Vergleichs mehrerer Lösungsmöglichkeiten. Letztlich gehören Erweiterung und Reduktion zusammen als komplementäre Aspekte der Struktur des menschlichen Verhaltens zur Welt. Man kann, mit einer leichten Umstellung der Begriffe, auch sagen, daß die Sozialdimension des menschlichen Erlebens mit ihren beiden Aspekten zusätzlicher Komplexität und neuer Möglichkeiten der Absorption von Komplexität das Komplexitätspotential und damit die Welt des Menschen erweitert. Durch die Existenz eines alter ego wird die Umwelt des Menschen zur Welt der Menschheit17.
Diesen Ausgangspunkt auch nur in einige seiner wichtigsten Konsequenzen hinein zu verfolgen, verbietet sich im Rahmen dieser Studie. Er definiert jedoch das Bezugsproblem, im Hinblick auf welches Vertrauen funktional analysiert und mit anderen, funktional äquivalenten sozialen Mechanismen verglichen werden kann. Wo es Vertrauen gibt, gibt es mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, steigt die Komplexität des sozialen Systems, also die Zahl der Möglichkeiten, die es mit seiner Struktur vereinbaren[9] kann, weil im Vertrauen eine wirksamere Form der Reduktion von Komplexität zur Verfügung steht. Auf dieser Grundlage soll eine Analyse des Vertrauens im folgenden versucht werden. Ein Vergleich würde entsprechende Vorarbeiten über andere Mechanismen, etwa Recht und Organisation, voraussetzen und kann daher nicht in einer einzelnen Monographie geleistet werden. Es muß uns, von beiläufigen Hinweisen abgesehen, genügen, den Tatbestand des Vertrauens vergleichsfähig aufzuarbeiten.
1 Er findet sich denn auch durchweg in dem leider spärlichen Schrifttum, das sich thematisch mit Vertrauen befaßt. Siehe z. B. E. Diesel 1947, S. 21 ff.
2 Siehe z. B. N. Hartmann 1962, S. 468 ff.; B. Bauch 1938, S. 67–74; F. Darmstaedter 1948, Sp. 430–436 (433); H. Eichler 1950, S. 111 ff.; G. Stratenzverth 1958, S. 78 ff. Wie gerade die zuletzt genannte Erörterung lehrt, ist eine solche Ja/Aber-Argumentation nur sinnvoll, wenn eine geltende Wertordnung vorausgesetzt werden kann, die angibt, wo das Ja ins Aber umschlägt.
3 Siehe z. B. A. Nitschke 1952, S.175–180.
4 Eine erste aber unzureichende Orientierung könnte Marcels Dichotomie von „problème“ und „mystère“ bieten. Siehe besonders G. Marcel 1935, S. 162ff. Sie wird jedoch dadurch, daß sie den Problembegriff auf Probleme des Herstellens und Habens festlegt, weder den Möglichkeiten einer transzendentalen Phänomenologie noch den Möglichkeiten funktionaler Analyse gerecht. „Herstellen“ und „Haben“ dienen hier im Grunde als Chiffren für eine sehr viel abstraktere fundamentale Beziehung des Ich zur Welt: für ein Verhältnis unabhängiger Variabilität bzw. relativer Invarianz.
5 Siehe z. B. den Versuch einer Einschmelzung der funktionalen in die kausale Analyse bei K. Davis 1959, S. 757–772, der verbreiteten Überzeugungen Ausdruck gibt.
6 Eingehender dazu: N. Luhmann 1971, S. 9ff., 31 ff.
7 Als solche Einzelzüge wären zu nennen: (1) daß alle funktionalen Aussagen nur relativ auf bestimmte Handlungssysteme gelten und daß es Systeme in extrem hoher Zahl gibt; (2) daß eine Handlung mehreren Systemen zugerechnet werden kann, Systeme also komplex ineinandergeschachtelt werden können; (3) daß die funktionale Systemanalyse nicht nur manifeste Funktionen (bewußte Handlungszwecke), sondern besonders nachdrücklich auch latente Funktionen zu erschließen sucht; (4) daß sie nicht nur funktionale, sondern auch dysfunktionale Folgen des Handelns berücksichtigt und als Folgeprobleme zum Ausgangspunkt weiterer Analysen macht; (5) daß sie eine vergleichende Methode ist, welche die Vorbedingung eines Vergleichs im täglichen Leben, vorausliegende Ähnlichkeiten, abwirft und Erkenntnis gerade darin sucht, möglichst heterogene Dinge unter dem Gesichtspunkt spezifischer Leistungen als funktional äquivalent zu erweisen, indem sie das Gleichheitsurteil aus dem Objekt in die Funktion verlegt. All dies zusammengenommen zeigt, daß es der funktionalen Methode