Friedens- und Konfliktforschung. Ines-Jacqueline Werkner
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Schließlich sei der positive Friedensbegriff mit seiner Intention aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation empirisch überholt. Angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage sei der negative Frieden – die Eindämmung, Beendigung und Verhinderung von Kriegen – wichtiger denn je, während der positive Frieden in dieser Situation fast schon anachronistisch erscheine (Bonacker und Imbusch 2006, S.132). Auch werde mit dem Begriff des negativen Friedens eine qualitative Abwertung insinuiert, die sich empirisch in keiner Weise rechtfertigen lasse. So sei bereits die Abwesenheit kollektiver Gewaltanwendung ein hohes Gut und in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzen (Huber und Reuter 1990, S.22).
Diese Kritik bedeutet für die hier angeführten Vertreter aber nicht, sich im Umkehrschluss für den negativen Frieden auszusprechen; die Forderung besteht vielmehr nach einem engen Friedensbegriff. Was dieses „Mehr“ gegenüber dem negativen Friedensbegriffs ausmachen soll, lässt sich bis heute schwer exakt fassen; und auch die Übergänge – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung – erweisen sich als fließend. Übereinstimmung unter den Befürwortern des engen Friedensbegriffs scheint in der Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen zu liegen. Der Friedensbegriff setze dann auf die „Eliminierung des Krieges“ (Czempiel 2002, S.84), und zwar im substanziellen Sinne: Er fokussiere auf die Verhinderung des Krieges, einschließlich der Bereitschaft zum Krieg, und auf einen Konfliktaustrag, der durch Gewaltverzicht gekennzeichnet sei. Beispielhaft hierfür sei die Definition von Ernst-Otto Czempiel:
„Friede besteht in einem internationalen System dann, wenn die in ihm ablaufenden Konflikte kontinuierlich ohne die Anwendung organisierter militärischer Gewalt bearbeitet werden.“ (Czempiel 1998, S.45)
Das mache die Begriffsdefinition, so ähnlich sie zunächst der des negativen Friedens erscheint, voraussetzungsreich. Sie unterscheide sich deutlich von einem „Friedens“-Zustand zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation; hinzu trete ihre zeitliche Dimension: Friede als dauerhafter Friede.4
Ausgehend von einem eng, aber substanziell gefassten Friedensbegriff werde dann nach den konkreten Bedingungen des Friedens gefragt. Dabei lassen sich verschiedene Zugänge ausmachen: Ansätze auf der Mikroebene zielen auf die individuellen Bedingungen gewaltfreier Konfliktaustragung und umfassen verschiedene Streitbeilegungsmechanismen, Formen friedlicher Konfliktbeilegung, Konflikttransformation oder auch konsensorientierte Konfliktlösungsstrategien.5 Die Mesoebene fokussiert auf gesellschaftliche Friedensbedingungen. Hier spielen Theorien der Demokratisierung und Zivilisierung (Demokratischer Frieden, Zivilisatorisches Hexagon etc.) eine zentrale Rolle. Auf der Makroebene werden vor allem systemische Bedingungen untersucht. Dazu zählen Ansätze, die auf eine Transformation der Struktur des internationalen Systems zielen wie beispielsweise Verrechtlichung, internationale Organisationen und Regime sowie wirtschaftliche Kooperation und Freihandel. Zudem finden sich konstruktivistische Ansätze, die auf eine Veränderung von Wahrnehmungen und der Etablierung einer Friedenskultur setzen.
Der Philosoph Georg Picht (1975, S.46) vertritt dagegen die These, es gehöre zum Wesen des Friedens, dass er nicht definiert werden könne. Stattdessen fokussiert er auf die Dimensionen politischen Handelns, anhand derer der Friedenszustand realisiert werden müsse, denn – so Picht (1971, S.33) – „[w]enn wir Frieden herstellen, definiert er sich selbst“. In diesem Kontext deckt er drei Parameter des Friedens auf, die unauflöslich miteinander zusammenhängen: Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit. Der Politikwissenschaftler Dieter Senghaas fügt später eine vierte Dimension hinzu: Schutz vor Chauvinismus beziehungsweise positiv formuliert die Anerkennung kultureller Vielfalt (vgl. Senghaas und Senghaas-Knobloch 2017). Nach Picht (1971, S.33) müsse jede Ordnung – innergesellschaftlich wie international – friedlos sein, die eine dieser Dimensionen vernachlässige. Auch wenn Picht explizit auf eine Definition des Friedens verzichtet, lässt sich unschwer erkennen, dass Frieden hier inhaltlich weiter als der negative Frieden gefasst wird.
1.3 Frieden – eine Utopie?
Zeichnet der Frieden – und das ist die zweite Frage, die sich an den Friedensbegriff stellt – politische und soziale Vorstellungen einer idealen Ordnung, die auf die Zukunft gerichtet sind, in der Realität aber nicht ihren Ort haben? Die chronischen, aber auch aktuellen Kriege und gewaltsam ausgetragenen Konflikte, nicht zuletzt das Ausbleiben des prognostizierten „Endes der Geschichte“ (Fukuyama 1992) scheinen diese Annahme zu stützen. Aber auch die These vom Krieg als eine Konstante der conditio humana lässt sich, und dafür spricht die europäische Geschichte, empirisch widerlegen.
Wie verhält es sich nun mit dem „unausweichlich Utopische[n] im Reden über den Frieden“ (Brock 2002, S.110)? Betrachten wir den positiven Frieden, lässt dieser eine gewisse Nähe zum eschatologischen Friedensbegriff1 erkennen: Frieden als das Werk der Gerechtigkeit (opus iustitiae pax).2 Das eschatologische Moment ist der Galtung’schen Definition eingeschrieben: Wenn strukturelle Gewalt zur „Standardbeschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Müller 2003, S.212) wird, fällt ihr Abbau – und als Pendant dazu die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit – in den Bereich dessen, was als „handlungsleitende Utopie“ beschrieben werden kann (Czempiel 1971, S.126; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.128).
Aber auch der enge Friedensbegriff kann diese Spannung nicht völlig auflösen. Selbst Frieden im Sinne einer (dauerhaften) Abwesenheit von Krieg scheint unmöglich, solange Gewaltakteure vom Krieg profitieren. Das sind heute nicht in erster Linie Staaten, sondern Akteure unterhalb dieser Ebene (die sogenannten „neuen Kriege“). Das Problem dahinter scheint von grundsätzlicher Natur: Wenn Krieg – so Herfried Münkler (2009, S.367f.) – zu einer Lebensform werde, weil diejenigen, die Gewalt anwenden, davon leben, gerate die historisch gewachsene Trennung von Krieg und Frieden in Gefahr.
Einen Ausweg aus dem „unausweichlich Utopischen“ bietet Czempiels Formel vom Frieden als dynamischer Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit (vgl. Schaubild 3). Czempiel nimmt die zeitliche Dimension des Friedens in den Begriff mit hinein. Frieden gilt nicht als (Ideal-)Ziel oder Zustand gesellschaftlichen und politischen Handelns, sondern wird als ein historischer Prozess der Zivilisierung von Konflikten, d.h. der Institutionalisierung dauerhafter und gewaltfreier Formen der Konfliktbearbeitung begriffen. Damit lässt sich die Realität im historischen Prozess verorten und in Relation zu diesem messen (u.a. Meyers 2011, S.41; Müller 2003, S.217).
Phasenmodell des Friedens nach Ernst-Otto Czempiel (1998, S.65)
1.4 Friede als Weltfriede?
Zunehmende Interdependenz und Globalisierung, unter anderem bedingt durch technische Innovationen, politische Entscheidungsprozesse und Maßnahmen zur Liberalisierung des Welthandels, prägen das internationale System. Auch die äußeren Beziehungen von Staaten werden immer enger miteinander verknüpft; ebenso steigt die Zahl der weltpolitischen Akteure dramatisch an. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich eine dritte Frage an den Friedensbegriff, die der räumlichen Dimension und geografischen Reichweite, oder anders formuliert: Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar?
Prominent für die Sichtweisen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts ist die Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker anlässlich der Verleihung