Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Alexander Gallus
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Jene Kräfte, die bald die erste Regierung der Weimarer Republik bildeten, mussten als Hauptschuldige für die Niederlage herhalten, die fortan in einem Atemzug mit der neu geschaffenen Demokratie genannt wurde. In der Dolchstoßthese schwang insofern stets ein grundlegender Angriff auf Republik und Demokratie mit. Da sollte es auch wenig nützen, als Friedrich Ebert die heimkehrenden Soldaten am 10. Dezember 1918 vor dem Brandenburger Tor mit den Worten begrüßte: „Kein Feind hat euch überwunden.“7 Für den Historiker Mark Jones half er auf diesem Wege sogar selbst mit, „die Vorstellung in den Köpfen zu verankern, die Revolution sei dem deutschen Heer in den Rücken gefallen“.8 Dem lässt sich mit guten Gründen entgegenhalten, Ebert habe mit seinem Gruß ein Zeichen der Mäßigung, des Ausgleichs und der Integration setzen wollen, um die erschöpften Frontkämpfer im neuen, politisch gewendeten Deutschland willkommen zu heißen, das sie eben nicht im Stich ließ.
Gleich wie die Interpretationen ausfallen, konnte Ebert seine radikal-rechten Feinde nicht zufriedenstellen. Aber auch seinen Kritikern zur Linken galt er als Verräter. Jahre später sollte die sozialdemokratisch ausgerichtete Volksstimme kurz nach dem Untergang der Weimarer Republik von der „Wucht der beiden Dolchstoßlegenden“ sprechen, die der SPD-Politik ab 1918/19 heftig zugesetzt habe.9 Bildlich zum Ausdruck kam die linke Version in einer Karikatur der kommunistischen Roten Tribüne vom 9. November 1925: Sie zeigt, wie Ebert im bürgerlichen Dreiteiler – flankiert von einem Freikorps-Soldaten – einem revolutionären Arbeiter, der die rote Fahne hochhält, den Dolch in den Rücken stößt. In der gesamten Gestaltung erinnert dies an das bis heute wohl bekannteste Bild zur rechten Dolchstoßthese, nämlich das Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) zu den Reichstagswahlen vom Dezember 1924: Darauf ersticht ein maskierter, rotgewandeter Proletarier hinterrücks einen Frontsoldaten, der noch im Fallen die schwarzweiß-rote Fahne in die Höhe streckt.
Beide bildlichen Darstellungen stammen aus jenen Jahren, als die öffentliche Debatte im Münchner „Dolchstoß-Prozess“ ihren Höhepunkt erreichte. Der Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte Paul Nikolaus Cossmann strengte im Herbst 1925 einen Ehrverletzungsprozess gegen den Chefredakteur der sozialdemokratischen Münchner Post Martin Gruber an. Dieser hatte Cossmann, der seine Monatsschrift zu einer Art Hauptorgan zur Propagierung der Dolchstoßthese gemacht hatte, der Geschichtsverfälschung bezichtigt. Der Prozess erregte nicht zuletzt großes Aufsehen, weil in ihm prominente Figuren wie der ehemalige Erste Generalquartiermeister Wilhelm Groener als Zeugen aussagten. Groener stellte Ebert und der Mehrheitssozialdemokratie insgesamt ein gutes Zeugnis aus, hätten beide doch mit der OHL kooperiert und eine auf Staatserhaltung zielende Politik verfolgt (was wiederum die linke Dolchstoßthese vom „Arbeiterverrat“ beflügelte). Am Ende sprach das Gericht von einem „Irrtum“, ließ den Vorwurf der Lüge und der Verhetzung indes nicht gelten.10
Im Wesentlichen war die Behauptung vom Dolchstoß widerlegt, auch dank der Stellungnahmen verschiedener Experten – so des von den Sozialdemokraten bestellten Historikers Hans Delbrück – im Prozess sowie in dem vom Reichstag eingesetzten Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Weltkrieges.11 Dessen vierter Unterausschuss über „Ursachen des Zusammenbruchs“ hatte sich ausdrücklich der „Dolchstoßfrage“ gewidmet. So sehr schon während der Weimarer Republik durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses ungeachtet aller Ambivalenzen eine Versachlichung der Debatte geleistet worden war, so blieb die Wirkung doch gering und gelang es mitnichten, innergesellschaftliche Gräben zuzuschütten oder wenigstens zu überbrücken.
Ab Mitte der 1920er Jahre erlahmte der öffentliche Streit zunehmend, ohne dass ein Konsens erzielt worden wäre. In gemäßigten linken und liberalen Kreisen galt die „verruchte Lüge“, von der die Weltbühne bereits im Januar 1919 gesprochen hatte12, als ein für allemal erwiesene Geschichtsfabel. Ihrem Ruf Fort mit der Dolchstoßlegende!, wie der Titel einer Broschüre aus der Feder des SPD-Ministers Adolf Köster von 1922 lautete13, folgten aber bei weitem nicht die Angehörigen aller politischen Milieus während der Weimarer Republik. So blieb die Erzählung vom Dolchstoß ein „Haupthindernis der innenpolitischen Verständigung“, wie der Historiker Martin Hobohm 1926 in den Spalten der Weltbühne nochmals festhielt.14
Innerhalb der politischen Rechten galt der Dolchstoß als unumstrittenes Faktum. In den neu formierten Kreisen der radikal-nationalistischen Alldeutschen und Völkischen erfuhr die These eine weitere Zuspitzung. Nunmehr standen nicht länger einzelne handelnde Politiker und debattierende Parlamentarier aus dem gemäßigt linken und liberal-bürgerlichen Lager („Vaterlandslose“, „Erfüllungspolitiker“) am Pranger, sondern pauschal ganze Gruppen, die als ebenso hinterlistig wie verabscheuenswert galten: „Marxisten“ und „Juden“. Die Dolchstoßthese bediente in dieser verschärften Variante hartnäckige antisozialistische und antisemitische Stereotype. Ein aufmerksamer Beobachter der Zeitläufte wie Ernst Troeltsch hatte schon im März 1919 auf Seiten der radikalen Rechten die Rede von der „charakterlosen jüdischen Demokratie“ einigermaßen besorgt registriert. Noch mehr wunderte er sich aber angesichts der weit über diese Zirkel hinausreichenden Bereitschaft zur Gut- oder Irrgläubigkeit: „Daß das alles Widersinn, Unwahrheit oder gar offenkundige Lüge ist, kümmert die Leute nicht.“15
Einem breiten rechten Spektrum diente die Dolchstoßthese der Verständigung und Selbstvergewisserung. Ihr kam, wie es Boris Barth in seinem Standardwerk Dolchstoßlegenden und politische Desintegrateion festhielt, die „funktionelle Bedeutung eines ideologischen Bindegliedes zwischen konservativen Eliten und dem Nationalsozialismus“ zu.16 Im „Dritten Reich“ wurde mit großer Gründlichkeit die These vom Dolchstoß ebenso wie vom fatalen Wirken der „Novemberverbrecher“ festgeschrieben. Schließlich galt die Revolution, die faktisch eine Folge des militärischen Zusammenbruchs war, den Nationalsozialisten als Ursache der Niederlage. Einträge zur Dolchstoßlegende wurden aus Büchern, Enzyklopädien und Wörterbüchern verbannt.17 Wie groß der Glaube an diese Geschichtsmär war, sollte sich noch am Ende des Zweiten Weltkriegs zeigen: Bis in die letzten Kriegstage hinein gingen SS-Schergen mit rücksichtsloser Härte gegen Deserteure vor, damit sich ein Dolchstoß nicht wiederholte, der im Nationalsozialismus zum festen Glaubensinventar einer aus der Lüge geborenen neuen Wahrheit geworden war.
Angesichts der Langlebigkeit dieser Legende kann es kaum verwundern, dass auch nach 1945, zumindest in der ersten Nachkriegszeit, die Sorge vor einer neuen Dolchstoßargumentation zu vernehmen war. Ernst Friedlaender warnte 1947 energisch in der Zeit davor.18 Der Geschichtspädagoge Heinz Schröder veröffentlichte in demselben Zeitraum eine kämpferische Schrift gegen eine neue Legendenbildung, ebenso der am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 beteiligte Oberst Wolfgang Müller.19 Alle drei trieb die Sorge um, nunmehr könnten die militärischen Widerstandskämpfer rund um Claus Schenk Graf von Stauffenberg statt als Helden verehrt zu Verrätern gestempelt werden. Friedlaender rief deshalb zu aktivem Handeln eines jeden einzelnen auf: „Der neuen Dolchstoßlegende muß, ehe sie gefährlich werden kann, die Wirklichkeit der Tatsachen entgegengestellt werden. Jeder unter uns hat die ernste moralische und politische Pflicht, in seinem Umkreis dafür zu sorgen, daß aus Leichtgläubigen Ungläubige werden. Selbst im privaten Gespräch bedarf es hierzu des Mutes zur Unpopularität.“
Wer sich die öffentliche Würdigung des Widerstands gegen Hitler in der frühen Nachkriegszeit vor Augen führt, der weiß, dass die Sorge vor der Wiederbelebung einer derart transformierten Dolchstoßlegende durchaus ihre Berechtigung hatte20, zumal der