Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Archiv der verlorenen Kinder - Valeria Luiselli страница 14
Er fummelt auf dem Rücksitz an seiner Polaroidkamera herum, liest stöhnend die Anleitung und lernt, wie sie zu handhaben ist.
Hier gibt es sowieso nichts zu fotografieren, klagt er. Alles, woran wir vorbeikommen, ist alt und hässlich und sieht aus, als würden da nur Geister wohnen.
Stimmt das? Wohnen hier Geister? fragt das Mädchen.
Nein, Baby, sage ich, es gibt keine Geister.
Obwohl der Gedanke gar nicht so abwegig ist. Je tiefer wir in das Land fahren, umso mehr habe ich den Eindruck, nur noch Trümmer und Ruinen zu sehen. Als wir an einer verlassenen Milchfarm vorbeifahren, sagt der Junge:
Stellt euch den ersten Menschen vor, der eine Kuh gemolken hat.
Zoophilie, denke ich, spreche es aber nicht aus. Ich weiß nicht, was mein Mann denkt, aber auch er schweigt. Das Mädchen vermutet, dass der erste Kuhmelker vielleicht dachte, er müsse nur fest genug ziehen – da unten –, dann würde die Glocke am Hals der Kuh läuten.
Bimmeln, verbessert der Junge sie.
Und dann kam plötzlich Milch raus, schlussfolgert sie, ohne ihren Bruder zu beachten.
Ich rücke den Spiegel zurecht und betrachte sie: ein breites Lächeln, ruhig und verschmitzt zugleich. Mir fällt eine etwas logischere Erklärung ein:
Vielleicht war es eine Menschenmutter, die ihrem Baby keine Milch geben konnte und deshalb beschloss, sie von der Kuh zu holen.
Doch die Kinder sind nicht überzeugt:
Eine Mutter ohne Milch?
Das ist verrückt, Mama.
Das ist lächerlich, Ma, bitte.
GIPFEL & PUNKTE
Als Teenager hatte ich eine Freundin, die immer eine erhöhte Stelle aufsuchte, wenn sie eine Entscheidung treffen musste oder ein schwieriges Problem verstehen wollte. Ein Hausdach, eine Brücke, ein Berg, falls vorhanden, ein Etagenbett, alles, was hoch war. Ihrer Theorie zufolge ließ sich ohne die schwindelerregende Klarheit, wie Höhen sie vermitteln, keine gute Entscheidung treffen oder eine wichtige Schlussfolgerung ziehen. Vielleicht.
Während wir in den Appalachen die Bergstraßen hochkriechen, denke ich zum ersten Mal klarer über die Entwicklungen der letzten Monate in unserer Familie nach – oder besser, zwischen uns als Paar. Ich glaube, mein Mann hatte im Laufe der Zeit das Gefühl, dass ihn unsere Verpflichtungen als Paar und als Familie – Miete, Rechnungen, Krankenversicherung – in eine zunehmend spießige Richtung drängten, immer weiter weg von der Arbeit, der er sich widmen wollte. Und Jahre später wurde ihm klar, dass unser gemeinsam aufgebautes Leben im Widerspruch zu seinen Wünschen stand. Ich versuchte monatelang zu begreifen, was da mit uns passierte, und war in dieser Zeit wütend, machte ihm Vorwürfe und fand ihn launisch – weil ihm Neues fehlte, Abwechslung, andere Frauen, was auch immer. Jetzt aber, auf unserer Reise, wo wir uns näher sind denn je und gleichzeitig weit entfernt von dem Gerüst, das den Alltag unseres Familienlebens stützte, und ohne das Projekt, das uns einst zusammenbrachte, wird mir klar, dass ich ähnliche Gefühle entwickelt hatte. Auch ich war nicht schuldlos: Ich hatte zwar nicht das Streichholz entzündet und das Feuer in Gang gesetzt, aber ich hatte monatelang zu dem Zündstoff beigetragen, der es jetzt schürte.
Die Höchstgeschwindigkeit auf den Straßen in den Appalachen beträgt 25 Meilen pro Stunde, was meinen Mann ärgert, ich hingegen finde es ideal. Trotz des langsamen Tempos fällt mir erst jetzt, Stunden später auf, dass die Bäume entlang der Bergstraße von Kudzu überwuchert sind. Auf dem Weg in dieses Hochtal waren wir nur durch Waldgebiet gefahren, aber jetzt sehen wir es ganz deutlich. Mein Mann erklärt den Kindern, dass Kudzu im neunzehnten Jahrhundert aus Japan eingeführt wurde und Farmer dafür bezahlt wurden, die Pflanze auf abgeernteten Feldern anzubauen, um die Bodenerosion einzudämmen. Natürlich übertrieb man es, und irgendwann breitete sich Kudzu auch auf den bewaldeten Berghängen aus. Die Pflanze nimmt den Bäumen das Sonnenlicht und entzieht ihnen Wasser. Die Bäume haben keinen Abwehrmechanismus. Auf den höher gelegenen Strecken der Bergstraße ist der Anblick erschreckend: Große Flecken von gelben Baumwipfeln sprenkeln die Wälder Virginias wie krebsartige Geschwüre.
All diese Bäume werden sterben, erstickt, ausgesaugt von diesen Kletterpflanzen, sagt mein Mann und fährt langsamer, weil eine Kurve kommt.
Aber du stirbst auch, Pa, genau wie wir und alle anderen, sagt der Junge.
Na ja, klar, räumt sein Vater ein und grinst. Aber das ist nicht der Punkt.
Worauf das Mädchen aufschlussreich erwidert:
Der Punkt ist, der Punkt ist, der Punkt ist immer rund.
TÄLER
Wir kriechen auf der schmalen, gewundenen Straße auf und ab durch die Blue Ridge Mountains und fahren, erneut auf der Suche nach einer Tankstelle, in westlicher Richtung in ein enges Tal, eingekeilt zwischen den beiden Armen der Gebirgskette. Als wir keinen Empfang mehr haben, schalte ich das Radio aus, und der Junge bittet seinen Vater, Geschichten über die Vergangenheit zu erzählen. Das Mädchen unterbricht ihn gelegentlich mit sehr konkreten Fragen.
Was ist mit Apachen-Mädchen? Gab es die auch?
Wie meinst du das? sagt er.
Du redest immer nur von Apachen-Männern und manchmal von Jungen, aber wo bleiben die Mädchen?
Er denkt kurz nach und sagt schließlich:
Ja, stimmt. Es gab zum Beispiel Lozen.
Er erzählt ihr, dass Lozen das beste und mutigste Apachen-Mädchen war. Ihr Name bedeutete »geschickte Pferdediebin«. Sie wuchs in einer für die Apachen harten Zeit auf, nachdem die mexikanische Regierung eine Belohnung auf Indianerskalps ausgesetzt hatte und hohe Summen für ihr langes schwarzes Haar zahlte. Aber Lozen erwischten sie nie; sie war zu schnell und zu schlau.
Hatte sie langes oder kurzes Haar?
Lozen trug ihr Haar in zwei langen Zöpfen. Sie war bekannt als Hellseherin, die wusste, wann ihrem Volk Gefahr drohte, und bewahrte es oft vor dem Schlimmsten. Sie war außerdem Kriegerin und Heilerin. Und später wurde sie Hebamme.
Was ist eine Hebamme? fragt das Mädchen.
Jemand, der Babys bringt.
Wie die Postbotin?
Ja, sagt er, wie die Postbotin.
FUSSABDRÜCKE
In der ersten Stadt, durch die wir tief im Herzen Virginias fahren, sehen wir mehr Kirchen als Menschen und mehr Hinweisschilder auf Lokalitäten als Lokalitäten selbst. Alles wirkt ausgehöhlt und entkernt, und was übrig ist, sind nur Worte: Namen, die auf ein Vakuum verweisen. Wir durchqueren ein Land, das nur aus Schildern besteht. Eines dieser Schilder kündigt ein familienbetriebenes Restaurant an und verspricht Gastfreundschaft; dahinter befindet sich lediglich ein baufälliges Eisengerippe, wunderschön leuchtend im Sonnenlicht.
Nachdem wir meilenweit an verlassenen Tankstellen vorbeigefahren sind, an denen Büsche durch jeden Riss im Beton sprießen, erreichen wir eine, die nur halb verlassen wirkt. Wir halten neben der einzigen einsatzbereiten Zapfsäule und steigen aus, um uns die Beine zu