Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
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Was heißt es, ein Flüchtling zu sein? Wahrscheinlich könnte ich dem Mädchen antworten:
Ein Flüchtlingskind ist jemand, der wartet.
Stattdessen lautet meine Antwort, dass ein Flüchtling jemand ist, der ein neues Zuhause suchen muss. Dann suche ich, um die Unterhaltung etwas abzumildern und sie von alldem abzulenken, nach einer Playlist und drücke die Zufallswiedergabe. Und als würde eine Strömung über uns hinwegspülen, wird augenblicklich alles in eine unbeschwertere Wirklichkeit zurückgeschoben oder zumindest in eine überschaubarere Unwirklichkeit:
Von wem ist dieser Fa-fa-fa-fa-fa-Song? fragt das Mädchen.
Talking Heads.
Haben die auch Haare?
Ja, klar.
Lange oder kurze?
Kurze.
Unser Tank ist fast leer. Wir müssen einen Umweg fahren und eine Stadt suchen, sagt mein Mann, in der es eine Tankstelle gibt. Ich hole die Karte aus dem Handschuhfach und studiere sie.
GLAUBHAFTE ANGST
Wenn Kinder ohne Papiere die Grenze erreichen, werden sie von einem Officer der Border Patrol verhört. Man nennt diese Befragung »credible fear interview« und will damit feststellen, ob das Kind triftige Gründe hat, Asyl in dem Land zu suchen. Gestellt werden immer die halbwegs gleichen Fragen:
Warum bist du in die Vereinigten Staaten gekommen?
Wann genau hast du dein Land verlassen?
Warum hast du dein Land verlassen?
Hat dir jemand gedroht, dich umzubringen?
Hast du Angst, in dein Land zurückzukehren? Warum?
Ich stelle mir die vielen Kinder vor, die ohne Papiere in den Händen eines Schleppers Mexiko durchqueren, auf den Dächern von Zugwaggons, wo sie versuchen, nicht herunterzufallen, nicht in die Fänge der Einwanderungsbehörde oder von Drogenbossen zu geraten, die sie in den Mohnfeldern versklaven würden, sofern sie sie nicht umbringen. Wenn die Kinder es an die amerikanische Grenze schaffen, versuchen sie sich zu stellen, aber wenn sie keinen Officer der Border Patrol finden, laufen sie in die Wüste. Wenn sie einen Officer finden oder von einem gefunden werden, nimmt man sie in Gewahrsam und unterzieht sie einer Befragung:
Warum bist du in die Vereinigten Staaten gekommen?
Vorsicht! rufe ich und blicke von der Karte auf die Straße. Mein Mann reißt das Steuer herum. Das Auto schlingert ein wenig, aber er bringt es wieder unter Kontrolle.
Konzentrier dich einfach auf die Karte, und ich konzentriere mich auf die Straße, sagt mein Mann und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Okay, antworte ich, aber du wärst fast gegen diesen Stein oder Waschbären oder was das war gefahren.
Herrgott, sagt er.
Herrgott was?
Herrgott noch mal, sagt er.
Was?
Führ uns einfach zur nächsten Tankstelle.
Das Mädchen nimmt grummelnd den Daumen aus dem Mund, schnaubt und sagt, wir sollen damit aufhören, unterbricht unser formloses, exzentrisches, ungrammatikalisches Gekläffe mit der Entschlossenheit ihres gesitteten Ärgers. Ohne die Fassung zu verlieren, setzt sie tief und müde seufzend einen Punkt in unseren Wortwechsel und räuspert sich. Wir verstummen. Und als sie merkt, dass sie unsere volle, stille, zerknirschte Aufmerksamkeit hat, gibt sie uns, als Zusammenfassung ihrer Intervention, einen letzten Rat. Manchmal spricht sie mit uns – obwohl sie noch keine sechs ist, immer noch Daumen lutscht und gelegentlich ins Bett macht – mit derselben versöhnlichen Haltung, die Psychiater ausstrahlen, wenn sie ihren wankelmütigen Patienten Rezepte ausstellen:
Hör zu, Papa. Ich glaube, es wird Zeit, dass du eine von deinen Kippen rauchst. Und du, Mama, du musst dich nur auf deine Karte und auf dein Radio konzentrieren. Okay? Ihr müsst jetzt beide mal das ganze Bild im Blick haben.
FRAGEN & ANTWORTEN
Niemand sieht die ganze Karte, weder historisch noch geografisch, wenn es um die Migrationswege einer Flüchtlingspopulation geht. Für die meisten Menschen sind Flüchtlinge und Migranten ein ausländisches Problem. Die wenigsten begreifen Migration als eine schlichte nationale Realität. Bei meiner Suche im Netz zur Krise der Kinder stoße ich auf einen mehrere Jahre alten Artikel aus der New York Times mit der Überschrift »Kinder an der Grenze«. Der Artikel ist im Frage-Antwort-Stil verfasst, allerdings stellt der Autor die Fragen und beantwortet sie selbst. Auf die Frage, woher die Kinder kommen, antwortet der Autor, dass drei Viertel aus »vorwiegend armen und gewaltgeprägten Städten« in El Salvador, Guatemala und Honduras kommen. Bedenklich finde ich die Worte »vorwiegend arme und gewaltgeprägte Städte« und die möglichen Folgerungen dieser schematischen Art der geografischen Zuordnung der Kinder, die in die Vereinigten Staaten abwandern. Diese Kinder, scheint diese Formulierung nahezulegen, sind uns vollkommen fremd. Sie kommen aus einer barbarischen Realität. Sie sind außerdem höchstwahrscheinlich nicht weiß. Auf die Frage, warum die Kinder nicht sofort abgeschoben werden, wird dem Leser erzählt: »Laut einem parteiübergreifend verabschiedeten Statut gegen den Menschenhandel … dürfen Minderjährige aus Zentralamerika nicht sofort abgeschoben werden und haben das Recht auf eine Anhörung vor Gericht, bevor sie abgeschoben werden. Eine Richtlinie der Vereinigten Staaten gestattet es, dass mexikanische Minderjährige, die beim Überqueren der Grenze aufgegriffen werden, unverzüglich zurückgeschickt werden.« Allein dieses Wort »gestattet« im letzten Satz! Man könnte meinen, der Autor wollte mit seiner Antwort auf die Frage »Warum werden die Kinder nicht sofort abgeschoben?« Trost spenden, indem er sagt, keine Sorge, zumindest die mexikanischen Kinder behalten wir nicht, denn zum Glück gibt es eine Richtlinie, die es uns gestattet, sie unverzüglich zurückzuschicken. Auch Manuelas Mädchen wären sofort zurückgeschickt worden, hätte ein freundlicher Officer sie nicht im Land gelassen. Aber wie viele Kinder werden zurückgeschickt, ohne auch nur die Chance zu erhalten, ihre glaubhaften oder nicht glaubhaften Ängste auszusprechen?
Niemand denkt an die Kinder, die heute als Flüchtlinge vor einem hemisphärischen Krieg ankommen, der sich von genau diesen Bergen hier quer durch das Land in den Süden der Vereinigten Staaten und die Wüsten im Norden Mexikos erstreckt, der sich weiter über die mexikanischen Sierras, Wälder und südlichen Regenwälder nach Guatemala, El Salvador bis zum Nationalpark Celaque in Honduras erstreckt. Niemand denkt an diese Kinder als Folge eines historischen Kriegs, der Jahrzehnte zurückreicht. Alle fragen ständig: Welcher Krieg? Wo? Warum sind sie hier? Warum kommen sie in die Vereinigten Staaten? Was sollen wir mit ihnen anfangen? Niemand fragt: Warum sind sie aus ihrer Heimat geflohen?
KEIN