Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli

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Archiv der verlorenen Kinder - Valeria  Luiselli

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es, Pronomen seien »Teil eines Systems, das mit Schatten streitet«, aber vielleicht meint sie auch, wir – Menschen, nicht Pronomen – seien »Teil eines Systems, das mit Schatten streitet«. Andererseits ist wir ein Pronomen, und sie beabsichtigt vielleicht diese Doppelbedeutung.

      Jedenfalls wurde die Frage, wie die endgültige Stellung all unserer Pronomen letztlich unser Leben bestimmte, unser Schwerpunkt. Sie wurde der dunkle, stumme Kern, um den unsere Gedanken und Fragen kreisten.

      Was machen wir, wenn wir in der Apacheria sind? fragte der Junge wiederholt in den folgenden Wochen.

      Ja, was dann? fragte ich meinen Mann später, als wir ins Bett krochen.

      Dann sehen wir weiter, sagte er.

      Die Apacheria gibt es natürlich nicht mehr wirklich. Aber sie existierte im Kopf meines Mannes und in den Geschichtsbüchern des neunzehnten Jahrhunderts, und sie beschäftigte zunehmend die Fantasie der Kinder:

      Gibt es da Pferde?

      Gibt es da Pfeil und Bogen?

      Haben wir Betten, Spielzeug, Essen, Feinde?

      Wann fahren wir los?

      Wir erklärten ihnen, dass wir am Tag nach dem zehnten Geburtstag des Jungen aufbrechen würden.

      KOSMOLOGIEN

      Während der letzten Tage in New York hatten wir plötzlich eine Ameisenplage in unserer Wohnung. Große schwarze Ameisen, geformt wie Achten, mit einem selbstmörderischen Hang zu Zucker. Wenn wir ein Glas mit etwas Süßem in der Küche stehen ließen, schwammen darin am nächsten Morgen zwanzig Ameisenleichen, ertrunken in ihrer eigenen Genusssucht. Sie erforschten Küchentheken, Schränke, die Spüle – alle üblichen Schlupfwinkel für Ameisen. Und dann krabbelten sie auf unsere Betten, unsere Nachttische und schließlich auf unsere Ellbogen und Hälse. Eines Abends war ich überzeugt, wenn ich lange genug still säße, könnte ich hören, wie sie in den Wänden herummarschierten und die unsichtbaren Adern unserer Wohnung übernahmen. Wir versuchten, jede Ritze zwischen Wand und Boden mit Klebeband abzudichten, aber nach wenigen Stunden löste es sich. Der Junge hatte die viel bessere Idee, die Ritzen mit Plastilin zu verkleben, und eine Zeit lang erfüllte es seinen Zweck, aber die Ameisen fanden bald wieder einen Weg in die Wohnung.

      Eines Morgens ließ das Mädchen nach dem Duschen eine schmutzige Unterhose auf dem Badezimmerboden liegen, und als ich sie ein paar Stunden später aufhob, um sie in den Wäschekorb zu werfen, wimmelte sie von Ameisen. Ich sah darin einen groben Verstoß, ein schlechtes Zeichen. Der Junge fand das Ganze faszinierend, das Mädchen höchst amüsant. Beim Abendessen erzählten die Kinder den Vorfall ihrem Vater. Ich hätte gern gesagt, dass diese ominösen Ameisen nichts Gutes bedeuteten. Aber wie sollte ich meine Befürchtung erklären, ohne verrückt zu klingen? Also sagte ich nur zum Teil, was ich dachte:

      Eine Katastrophe.

      Mein Mann lauschte dem Bericht der Kinder, nickte, lächelte und erklärte ihnen dann, dass Ameisen in der Mythologie der Hopi als heilig galten. Ameisen-Menschen waren Götter, die Leute in der Oberwelt vor Katastrophen retteten, indem sie sie in die Unterwelt brachten, wo sie in Ruhe und Frieden lebten, bis die Gefahr vorüber war und sie wieder in die Oberwelt zurückkehren konnten.

      Und vor welcher Katastrophe wollen uns die Ameisen hier retten? fragte der Junge.

      Ich fand die Frage gut, unfreiwillig spitz vielleicht. Mein Mann räusperte sich, antwortete aber nicht. Dann fragte das Mädchen:

      Was ist eine Katastrophe?

      Etwas ganz Schlimmes, sagte der Junge.

      Sie saß schweigend da, betrachtete hoch konzentriert ihren Teller und drückte mit ihrer Gabel den Reis platt. Dann blickte sie sehr ernst zu uns auf und gab einen merkwürdigen Wust von Ideen zum Besten, als wäre der Geist eines deutschen Hermeneutikers aus dem neunzehnten Jahrhundert in sie gefahren:

      Die Ameisen, sie marschieren einfach herein, fressen meine Oberwelthöschen, sie bringen uns dahin, wo es keine Katastrophen gibt, nur schöne Trophäen und Popofreiheit.

      In mancher Hinsicht sind Kinderworte die Rettung aus Familienkrisen, indem sie uns in ihre merkwürdig lichte Unterwelt führen, die vor unseren bürgerlichen Katastrophen sicher ist. Ich glaube, von diesem Tag an ließen wir unser Schweigen von den Stimmen unserer Kinder verdrängen. Wir ließen unsere Angst und Trauer um die Zukunft von ihrer Fantasie in eine Art erlösendes Delirium alchemisieren: Popofreiheit!

      Unterhaltungen in Familien sind wie sprachliche Archäologie. Sie bilden unsere gemeinsame Welt ab, beschriften sie schichtweise wie ein Palimpsest und verleihen unserer Gegenwart und Zukunft Bedeutung. Die Frage ist, ob sich dann, wenn wir irgendwann unser persönliches Archiv öffnen und unser Familienband abspielen, eine Geschichte daraus ergibt. Eine Soundscape. Oder ob alles nur Bandsalat, Krach und Müll ist.

      VORBEIGEHENDE FREMDE

      In Walt Whitmans Gedicht »Grashalme« gibt es eine Stelle, die für meinen Mann und mich früher, als wir noch ein frisches Paar mit Plänen und Träumen von einer gemeinsamen Zukunft waren, eine Art Urtext oder Manifest darstellte. Es beginnt mit den Zeilen:

       Fremdling, der du vorbeigehst! Du weißt nicht, wie sehnsüchtig ich nach dir blicke,

       Du musst der sein, den ich suchte, oder die, die ich suchte (es kommt mir vor wie aus einem Traum).

       Ich habe sicherlich irgendwo ein Leben der Freude mit dir gelebt,

       Alles ist wieder wach, da wir aneinander vorbeihuschen, flüchtig, zärtlich, keusch, gereift.

       Du wuchsest auf mit mir, warst Knabe mit mir oder Mädchen mit mir,

      Ich aß mit dir und schlief mit dir

      Das Gedicht erklärte, so dachten wir jedenfalls, warum wir beschlossen hatten, unser Leben allein, aber zusammen dem Aufnehmen fremder Stimmen und Klänge zu widmen. Trotz der Flüchtigkeit der Begegnungen, oder vielleicht gerade deshalb, erfuhren wir beim Einfangen ihrer Stimmen, ihres Lachens, ihres Atems eine unglaubliche Intimität: Einen kurzen Moment lang nahmen wir am Leben dieser Fremden teil. Und im Gegensatz zum Filmen ermöglichte uns die Arbeit mit Ton den Zugang zu einer tieferen, unsichtbaren Schicht der menschlichen Seele, ähnlich einem Hydrografen, der die Lotung eines Gewässers durchführt, um die Tiefe eines Ozeans oder eines Sees zu kartografieren.

      Das Gedicht endet mit einem Schwur an den vorbeigehenden Fremdling: »Ich will darauf achten, dass ich dich nicht verliere.« Es ist ein Versprechen der Beständigkeit: Dieser flüchtige, intime Augenblick zwischen dir und mir, zwei Fremden, wird eine Spur hinterlassen und für immer nachhallen. Bei einigen Fremden, die wir im Laufe der Jahre trafen und aufnahmen, haben wir dieses Versprechen in vielerlei Hinsicht gehalten – ihre Stimmen und Geschichten sind uns immer wieder präsent. Aber wir hätten uns nie vorgestellt, dass dieses Gedicht und besonders die letzte Zeile auch eine gewisse Warnung an uns war. Bei all dem Engagement und der Aufmerksamkeit, mit der wir die Nähe zu Fremden suchten und ihren Stimmen lauschten, wäre uns nie in den Sinn gekommen, dass zwischen uns beiden jemals Schweigen entstehen könnte. Uns wäre nie in den Sinn gekommen, dass wir uns irgendwann inmitten der Menge verlieren könnten.

      STICHPROBEN & SCHWEIGEN

      Nach all dem Sampeln und Mitschneiden besaßen wir ein volles Archiv mit Fragmenten von fremden Leben,

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