Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli

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Archiv der verlorenen Kinder - Valeria  Luiselli

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Informationen darüber zu sammeln, was in den Auffanglagern und Notunterkünften an der Grenze, jenseits des New Yorker Einwanderungsgerichts, vor sich ging. Ich nahm Kontakt mit Anwälten auf, besuchte Konferenzen der New Yorker Anwaltskammer, traf mich mit Mitarbeitern von Non-Profit-Organisationen und Gemeindegruppen. Ich sammelte Notizen, Zeitungsausschnitte, Karteikarten mit Zitaten, Briefe, Landkarten, Fotos, Wortlisten, mitgeschnittene Zeugenaussagen. Als ich langsam in meinem hausgemachten dokumentarischen Labyrinth unterzugehen drohte, kontaktierte ich einen alten Freund, einen auf Archivkunde spezialisierten Professor an der Columbia University, der mir einen langen Brief schrieb und mir eine Liste mit Artikeln und Büchern schickte, die mein Chaos vielleicht ein wenig erhellten. Ich las und las, verbrachte lange schlaflose Nächte lesend über Archivfieber, darüber, wie diasporische Erzählungen das Gedächtnis auffrischten oder wie man sich in der »Asche« des Archivs verliert.

      Als ich schließlich klarer sah und eine vernünftige Menge an gut gesichtetem Material zusammenhatte, das mir bei der Umsetzung meiner Dokumentation über die Krisensituation der Kinder an der Grenze hilfreich sein könnte, packte ich alles in eine der Schachteln, die mein Mann noch nicht mit seinen Sachen gefüllt hatte. Ich hatte ein paar Fotos, einige Rechtsdokumente, Aufnahmefragebögen für gerichtliche Prüfverfahren, Karten von den Wüsten im Süden, auf denen Fundorte von toten Migranten verzeichnet waren, und eine Mappe mit zahllosen, aus dem Netz ausgedruckten »Migranten-Mortalitätsberichten« mit Angaben zur wahrscheinlichen Todesursache und dem genauen Fundort. Ganz oben in die Schachtel legte ich ein paar Bücher, die ich gelesen hatte und die mir helfen konnten, mein Projekt aus einer gewissen erzählerischen Distanz zu betrachten: Die Pforten des Paradieses von Jerzy Andrzejewski; Der Kinderkreuzzug von Marcel Schwob; Belladonna von Daša Drndić; Der Geschmack des Archivs von Arlette Farge; und ein kleines rotes, noch ungelesenes Buch mit dem Titel Elegien für verlorene Kinder von Ella Camposanto.

      Als mein Mann sich darüber beklagte, dass ich eine seiner Schachteln benutzte, beklagte ich mich zurück, dass er vier Schachteln hatte, ich dagegen nur eine. Er meinte, ich als Erwachsene könne mich doch nicht ernsthaft über die Anzahl der von ihm benutzten Schachteln beschweren. Da er in gewisser Weise recht hatte, nahm ich seine Antwort lächelnd zur Kenntnis. Seine Schachtel benutzte ich trotzdem.

      Dann beschwerte sich der Junge. Wieso bekam er keine Schachtel? Da uns Argumente gegen seine Forderung fehlten, gestanden wir ihm eine zu.

      Natürlich beschwerte sich dann auch das Mädchen. Sie bekam ihre Schachtel. Auf unsere Frage, was sie denn in ihre Schachteln packen wollten, erwiderte der Junge, er wolle seine vorläufig leer lassen:

      Damit ich unterwegs Sachen sammeln kann.

      Ich auch, sagte das Mädchen.

      Wir hielten dagegen, dass leere Schachteln Platzverschwendung seien. Aber unsere Argumente fanden gute Gegenargumente, oder vielleicht waren wir es leid, überhaupt Gegenargumente zu finden, und damit war die Sache erledigt. Insgesamt hatten wir sieben Schachteln. Sie würden im Kofferraum des Autos, das wir noch kaufen mussten, als unsere Anhängsel mitreisen. Ich nummerierte sie sorgfältig mit einem schwarzen Filzstift. Die Schachteln I bis IV gehörten meinem Mann, Schachtel VI gehörte dem Mädchen, Schachtel VII dem Jungen. Mir gehörte Schachtel V.

      APACHERIA

      Am Beginn der Sommerferien, die nur noch einen guten Monat entfernt waren, wollten wir Richtung Südwesten fahren. In der Zwischenzeit führten wir unser Leben in der Stadt weiter, als würde sich nichts Wesentliches zwischen uns ändern. Wir kauften ein billiges gebrauchtes Auto, einen Volvo-Kombi, Baujahr 1996, schwarz, mit einem riesigen Kofferraum. Wir gingen zu zwei Hochzeiten und hörten auf beiden, was für eine wundervolle Familie wir doch seien. So hübsche Kinder, und sie sehen sich gar nicht ähnlich, sagte eine alte Frau, die nach Talkumpuder roch. Wir kochten Abendessen, sahen uns Filme an und schmiedeten Pläne für die Reise. An mehreren Abenden studierten wir alle vier die große Karte, wählten Routen aus und gingen geflissentlich darüber hinweg, dass wir vielleicht die Straße zu unserer Trennung festlegten.

      Aber wo genau fahren wir denn hin? fragten die Kinder.

      Wir wussten es immer noch nicht, hatten uns auf nichts einigen können. Ich wollte nach Texas, dem Bundesstaat mit den meisten Internierungslagern für Kinder. Es gab Tausende von Kindern, die in Galveston, Brownsville, Los Fresnos, El Paso, Nixon, Canutillo, Conroe, Harlingen, Houston und Corpus Christi weggesperrt waren. Mein Mann wollte, dass die Reise in Arizona endete.

      Warum Arizona? fragten wir alle.

      Und wo in Arizona? wollte ich wissen.

      Eines Abends schließlich breitete mein Mann die große Karte auf unserem Bett aus und rief die Kinder und mich ins Schlafzimmer. Er fuhr mit dem Zeigefinger von New York bis nach Arizona, klopfte dann zweimal auf eine Stelle, einen winzigen Punkt in der südwestlichen Ecke des Staates, und sagte:

      Da.

      Was ist da? fragte der Junge.

      Da sind die Chiricahua Mountains, sagte er.

      Und? fragte der Junge.

      Da ist das Herz der Apacheria, antwortete er.

      Und da fahren wir hin? fragte das Mädchen.

      Ja, genau, erwiderte mein Mann.

      Und warum dahin? wollte der Junge wissen.

      Weil dort die letzten Chiricahua-Apachen gelebt haben.

      Na und? gab der Junge zurück.

      Und gar nichts, da fahren wir hin, zur Apacheria, wo die letzten freien Völker auf dem gesamten amerikanischen Kontinent gelebt haben, bevor sie sich den Bleichgesichtern ergeben mussten.

      Was ist ein Bleichgesicht? fragte das Mädchen, das sich vermutlich ein schreckliches Wesen vorstellte.

      So haben die Chiricahua die weißen Europäer und Amerikaner genannt.

      Warum? wollte sie wissen, und auch ich war neugierig, doch der Junge schnappte sich die Zügel der Unterhaltung und lenkte sie in seine Richtung.

      Aber warum Apachen, Pa?

      Darum.

      Darum was?

      Weil sie die Letzten einer Epoche waren.

      PRONOMEN

      Es war entschieden. Wir würden bis zur Südostspitze von Arizona fahren, wo er bleiben würde, oder besser, wo er und der Junge für eine unbestimmte Zeit bleiben würden, das Mädchen und ich jedoch vermutlich nicht. Wir würden die ganze Strecke mit ihnen fahren und am Ende des Sommers zurückkehren. Ich würde die Tondokumentation über Flüchtlingskinder beenden und mir dann einen Job suchen müssen. Sie würde wieder zur Schule gehen. Ich konnte nicht einfach nach Arizona ziehen und alles hinter mir lassen, außer ich fand eine Möglichkeit oder einen Grund, meinem Mann in sein neues Abenteuer zu folgen, ohne meine eigenen Pläne und Projekte aufzugeben. Wobei mir nicht klar war, ob er abgesehen von diesem gemeinsamen Sommer überhaupt wollte, dass man ihm folgte.

      Ich, er, wir, sie: Während wir die Bedingungen des Umzugs aushandelten, wechselten die Pronomen in unserer verwirrten Syntax ständig den Platz. Wir unterhielten uns jetzt zögerlicher über alles, selbst über Banalitäten, wir redeten auch leiser, als gingen wir mit unseren Zungen auf Zehenspitzen, wir waren vorsichtig, als hätten wir panische Angst, auf dem plötzlich sehr instabilen Boden unseres Familienterrains auszurutschen und zu fallen. Es

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