Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli

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Archiv der verlorenen Kinder - Valeria  Luiselli

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wurde, fand ich es zunächst protzig, megalomanisch, irgendwie zu didaktisch. Ich war jung, wenn auch nicht viel jünger als heute, und sah mich noch als politische Hardcore-Journalistin. Außerdem gefiel mir nicht, dass das Projekt, obwohl vom Center for Urban Science and Progress der NYU organisiert und später für dessen Tonarchiv gedacht, zum Teil von einigen multinationalen Konzernriesen finanziert wurde. Ich recherchierte ein bisschen über ihre CEOs – gab es Skandale, Betrügereien, irgendwelche faschistischen Verbindungen? Aber ich hatte eine kleine Tochter. Als ich erfuhr, dass der Vertrag auch Krankenversicherung einschloss, und feststellte, dass ich von dem Gehalt leben konnte, ohne tausend journalistische Kleinaufträge annehmen zu müssen, hörte ich auf zu recherchieren und so zu tun, als könnte ich es mir leisten, mir über Firmenethik den Kopf zu zerbrechen, und unterschrieb den Vertrag. Ich bin mir nicht sicher, welche Gründe meinen Mann dazu bewegten – damals war er noch ein auf Akustomologie spezialisierter Fremder und nicht mein Ehemann oder Vater unserer Kinder –, aber ungefähr zur selben Zeit unterschrieb er seinen Vertrag.

      Wir stürzten uns beide voll und ganz in das Soundscape-Projekt. Jeden Tag gingen wir, während die Kinder in der Krippe und der Schule waren, in die Stadt, ohne zu wissen, was uns erwartete, aber immer sicher, wir würden etwas Neues entdecken. Wir zogen durch die fünf Bezirke, interviewten Fremde und baten sie, in ihrer Muttersprache zu sprechen und etwas darüber zu erzählen. Er mochte die Tage, die wir in Durchgangsräumen wie Bahnstationen, Flughäfen und Bushaltestellen verbrachten. Ich mochte die Tage in den Schulen, wo wir Kinder befragten. Mit hochgehaltener Tonangel und über die rechte Schulter geschlungener Porta-Brace schlenderte er durch volle Cafeterias und nahm das Durcheinander von Stimmen, Besteck und Schritten auf. Ich hielt den Kindern in Gängen und Klassenzimmern meinen Rekorder dicht vor den Mund, während sie meine Fragen beantworteten. Ich wollte wissen, ob sie sich an Lieder und Sprichwörter erinnern, die sie zu Hause hörten. Ihr Akzent war oft anglisiert und angepasst, die Sprachen ihrer Eltern waren ihnen mittlerweile fremd. Ich erinnere mich, wie sie mit ihren rosa Zungen ernst und diszipliniert versuchten, die Eigenheiten und Laute ihrer zunehmend fernen Muttersprachen zu bewältigen: die schwierige Stellung der Zungenspitze beim spanischen erre, die schnellen Zungenschläge gegen den Gaumen in den vielen mehrsilbigen Wörtern der Kichwa und Karif, das weiche, abwärts gewölbte Zungenbett beim aspirierten arabischen h.

      Monatelang nahmen wir Stimmen auf und sammelten Akzente. Wir hatten jede Menge Material, auf dem Menschen sprachen, Geschichten erzählten, Pausen machten, Lügen auftischten, beteten, zögerten, beichteten, atmeten.

      ZEIT

      Wir sammelten auch immer mehr Dinge: Pflanzen, Teller, Bücher, Stühle. In wohlhabenden Vierteln nahmen wir Sachen mit, die auf der Straße standen. Später stellten wir dann fest, dass wir nicht noch einen Stuhl oder ein Bücherregal brauchten, stellten das Gesammelte in unserem weniger wohlhabenden Viertel auf den Gehsteig zurück und fühlten uns dabei wie die unsichtbare linke Hand der Umverteilung von Besitztümern – die Anti-Adam-Smiths der Bürgersteige und Bordsteinkanten. Eine Zeit lang sammelten wir weiter Sachen von der Straße, bis wir eines Tages im Radio von einer Wanzenplage in der Stadt hörten und es sein ließen, Sperrmüll durchzuwühlen und Besitztümer umzuverteilen. Es wurde Winter, und dann kam der Frühling.

      Es ist nie ganz klar, was eine Wohnung in ein Heim verwandelt und ein Lebensprojekt in ein Leben. Irgendwann passten unsere Bücher nicht mehr in die Regale, und aus dem großen leeren Raum in unserer Wohnung war unser Wohnzimmer geworden, der Ort, wo wir uns Filme ansahen, Bücher lasen, Puzzles zusammensetzten, Nickerchen machten, den Kindern bei den Hausaufgaben halfen. Wir saßen dort mit Freunden zusammen, führten nach ihrem Aufbruch lange Diskussionen, vögelten, sagten schöne und schreckliche Dinge zueinander und räumten hinterher schweigend auf.

      Keine Ahnung, wie die Zeit vergangen und wohin sie verschwunden war, aber der Junge war plötzlich acht, dann neun und das Mädchen fünf. Sie besuchten dieselbe öffentliche Schule. Die vielen kleinen Fremden, die sie kennengelernt hatten, waren jetzt ihre Freunde. Es gab Fußballteams, Turnen, Theateraufführungen am Schuljahresschluss, Übernachtungspartys, immer zu viele Geburtstagsfeiern, und die Striche im Flur, mit denen wir die Größe unserer Kinder markierten, erzählten eine vertikale Geschichte. Sie waren so groß geworden! Mein Mann fand, dass sie zu schnell wuchsen. Unnatürlich schnell, sagte er, wegen der Biovollmilch, die sie aus diesen kleinen Päckchen tranken; seiner Ansicht nach war die Milch chemisch verändert, um bei Kindern frühzeitiges Wachstum zu fördern. Vielleicht, dachte ich. Aber vielleicht war auch einfach nur Zeit vergangen.

      ZÄHNE

      Wie weit noch?

      Wie lange noch?

      Vermutlich ist das bei allen Kindern so: Wenn sie im Auto wach sind, wollen sie beachtet werden, Pinkelpausen machen, Snacks essen. Aber am häufigsten fragen sie:

      Wann sind wir endlich da?

      Meistens antworten wir den beiden, dass es nicht mehr lange dauert. Oder wir sagen:

      Spielt mit euren Spielsachen.

      Zählt alle weißen Autos, die vorbeifahren.

      Versucht zu schlafen.

      Als wir in der Nähe von Philadelphia an einer Zahlstelle halten, wachen sie plötzlich auf, als würden sie ihren Schlaf miteinander und, etwas schwerer erklärbar, mit den wechselnden Fahrtgeschwindigkeiten abstimmen. Das Mädchen ruft von hinten:

      Wie viele Straßen noch?

      Nur noch ein Weilchen, dann machen wir halt in Baltimore, sage ich.

      Aber wie viele Straßen noch, bis wir ganz da sind?

      »Ganz da« ist in Arizona. Geplant ist, dass wir von New York in die südöstliche Ecke des Staates fahren. Auf der Fahrt in südwestlicher Richtung zu den Grenzgebieten werden mein Mann und ich an unseren neuen Tonprojekten arbeiten und Feldaufnahmen und Umfragen machen. Ich werde Interviews führen und Gesprächsfetzen zwischen Fremden einfangen, Nachrichten aus dem Radio und Stimmen in Dinern aufnehmen. In Arizona werde ich meine letzten Aufzeichnungen machen und anfangen, alles zu bearbeiten. Dazu bleiben mir vier Wochen Zeit. Dann muss ich wahrscheinlich mit dem Mädchen zurück nach New York fliegen, doch das steht noch nicht endgültig fest. Wie der genaue Plan meines Mannes aussieht, weiß ich nicht. Ich betrachte sein Profil. Er konzentriert sich auf die Straße. Er wird den Wind mitschneiden, der in Ebenen oder auf Parkplätzen weht; Schritte auf Kies, Beton oder Sand; Kleingeld, das in Registrierkassen fällt, Zähne, die Erdnüsse zerkauen, eine Kinderhand, die in einer Jackentasche voller Kieselsteine wühlt. Ich weiß nicht, wie lange sein neues Projekt dauert oder was als Nächstes kommt. Das Mädchen unterbricht unser Schweigen und beharrt auf seiner Frage:

      Ich hab euch was gefragt, Mama, Papa. Wie viele Straßen noch, bis wir ganz da sind?

      Wir müssen uns ermahnen, geduldig zu sein. Wir wissen – und vermutlich weiß es auch der Junge –, wie verwirrend es sein muss, in der zeitlosen Welt einer Fünfjährigen zu leben: einer Welt, in der Zeit im Überfluss vorhanden ist. Mein Mann gibt dem Mädchen schließlich eine Antwort, die es offensichtlich zufriedenstellt:

      Wir sind ganz da, wenn du unten deinen zweiten Zahn verlierst.

      VERKNOTETE ZUNGEN

      Als das Mädchen mit vier die Vorschule besuchte, verlor sie frühzeitig einen Zahn. Unmittelbar danach fing sie an zu stottern. Wir wussten nicht, ob es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Schule, Zahn und Stottern gab. In unserer Familiengeschichte jedoch verband sich alles drei zu einem verwirrenden, emotional aufgeladenen Knoten.

      Eines Morgens während unseres letzten Winters in New York unterhielt ich mich mit der Mutter einer Klassenkameradin meiner

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