Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli

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Archiv der verlorenen Kinder - Valeria  Luiselli

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über die Krise der Kinder an der Grenze zu helfen. Keine große Produktion: nur ich, meine Aufnahmegeräte und ein strenger Zeitplan.

      Auch mein Mann hatte mit der Arbeit an einem neuen Projekt begonnen, ohne dass ich es zunächst bemerkte. Es begann mit ein paar Büchern über die Geschichte der Apachen, die sich auf seinem Schreibtisch und Nachttisch stapelten. Da er sich schon immer für das Thema interessiert hatte und den Kindern oft Geschichten über die Apachen erzählte, fand ich es nicht merkwürdig, dass er all diese Bücher las. Dann hingen plötzlich Landkarten von indianischem Territorium und Bilder von Häuptlingen und Kriegern an den Wänden um seinen Schreibtisch. Ich ahnte, dass sich sein lebenslanges Interesse allmählich zu offizieller Recherche auswuchs.

      Woran arbeitest du? fragte ich ihn eines Nachmittags.

      Nur ein paar Geschichten.

      Worüber?

      Apachen.

      Warum Apachen? Und welche?

      Er sagte, er interessiere sich für Häuptling Cochise, Geronimo und die Chiricahua, weil es die letzten Apachen-Führer – moralisch, politisch, militärisch – der letzten freien Völker auf dem amerikanischen Kontinent gewesen waren, die letzten, die sich ergaben. Natürlich war das ein mehr als zwingender Grund, um Recherchen anzustellen, aber doch nicht ganz der, den ich hören wollte.

      Später bezeichnete er diese Recherche als sein neues Tonprojekt. Er kaufte ein paar stabile Archivschachteln und füllte sie mit Büchern, Karteikarten mit Notizen und Zitaten, Zeitungsausschnitten, Landkarten, Feldaufnahmen und Tonstudien, die er in öffentlichen Bibliotheken und Privatarchiven fand, sowie einer Reihe kleiner brauner Notizbücher, in die er täglich fast zwanghaft schrieb. Ich fragte mich, welche Art von Klangcollage sich irgendwann aus alldem ergeben könnte. Als ich ihn auf die Schachteln, ihren Inhalt und seine Pläne ansprach und wissen wollte, wie sie sich mit unseren gemeinsamen Plänen vereinbaren ließen, antwortete er nur, das wisse er noch nicht, aber er gebe mir bald Bescheid.

      Als er es ein paar Wochen später tat, diskutierten wir unsere nächsten Schritte. Ich sagte, ich wolle mich auf mein Projekt konzentrieren und Geschichten von Kindern und ihren Anhörungen im New Yorker Einwanderungsgericht aufnehmen. Ich sagte außerdem, dass ich daran dachte, mich für einen Job bei einem lokalen Radiosender zu bewerben. Seine Antwort fiel aus, wie ich erwartet hatte. Er wollte an einer Dokumentation über die Apachen arbeiten, hatte sich für ein Stipendium beworben und es erhalten. Das Material, das er für sein Projekt sammeln musste, war an bestimmte Orte gebunden, denn seine Soundscape sollte diesmal anders werden. Er sprach von einem »Echo-Register«, das die Geister Geronimos und der letzten Apachen enthalten würde.

      Das Dumme am Leben mit einem anderen ist, dass man ihn jeden Tag sieht und bei einer Unterhaltung all seine Gesten vorhersagen kann, dass man die Absichten hinter seinem Handeln lesen und seine Reaktionen auf bestimmte Umstände ziemlich genau einschätzen kann, dass man sicher ist, den anderen in- und auswendig zu kennen – und trotzdem kann er eines Tages plötzlich ein Fremder werden. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mein Mann sagen würde, er brauche Zeit für sein neues Projekt, mehr Zeit als nur einen Sommer. Außerdem brauche er Stille und Einsamkeit. Und er müsse für längere Zeit in den Südwesten des Landes ziehen.

      Was heißt längere Zeit? fragte ich.

      Wahrscheinlich ein bis zwei Jahre, vielleicht auch länger.

      Und wo im Südwesten?

      Weiß ich noch nicht.

      Und was ist mit meinem Projekt? fragte ich.

      Dein Projekt ist wichtig, mehr sagte er nicht.

      ALLEIN ZUSAMMEN

      Ich nehme an, mein Mann und ich hatten uns schlicht nicht auf den zweiten Teil unseres Zusammenseins vorbereitet, den Teil, in dem wir einfach das Leben führten, das wir uns aufgebaut hatten. Ohne ein künftiges gemeinsames berufliches Projekt drifteten wir in anderer Hinsicht langsam auseinander. Vermutlich hatten wir – oder vielleicht auch nur ich – den weitverbreiteten Fehler gemacht, uns einzubilden, dass die Ehe eine absolute Interessengemeinschaft darstellt, die keine Grenzen kennt, anstatt sie schlicht als Pakt zwischen zwei Menschen zu begreifen, die bereit sind, Hüter der Einsamkeit des anderen zu sein, wie Rilke oder irgendein anderer gleichmütiger Philosoph es vor langer Zeit formuliert hatte. Aber kann man sich darauf vorbereiten? Kann man Folgen in Angriff nehmen, bevor man Ursachen entdeckt?

      Bei unserer Hochzeitsfeier vor einigen Jahren hatte uns ein Freund mit der orakelhaften Aura eines Betrunkenen kurz vor dem Absturz gesagt, die Ehe sei ein Festmahl, zu dem die Leute zu spät kamen, wenn alles schon halb aufgefuttert war, alle schon zu müde waren und gehen wollten, aber nicht so recht wussten, wie und mit wem.

      Aber ich, meine Freunde, kann euch sagen, was zu tun ist, damit eine Ehe ewig hält! sagte er.

      Dann schloss er die Augen, ließ das bärtige Kinn auf die Brust sinken und gab den Geist auf.

      EINZELPOSTEN

      Es folgten viele schwierige Abende, an denen wir, nachdem die Kinder im Bett lagen, das Organisatorische rund um den Plan meines Mannes, für längere Zeit in den Südwesten zu ziehen, ausgiebig diskutierten. Viele schlaflose Nächte, in denen wir verhandelten, stritten, vögelten, neu verhandelten und Lösungen suchten. Ich verbrachte Stunden mit dem Versuch, sein Projekt zu begreifen oder mich zumindest damit anzufreunden, und noch mehr Stunden, ihn mit Argumenten von seinem Plan abzubringen. Eines Abends verlor ich die Nerven und warf sogar mit einer Glühbirne und einer Rolle Klopapier nach ihm, begleitet von einer Reihe lahmer Beschimpfungen.

      Doch die Zeit verging, und die Vorbereitungen für die Reise wurden getroffen. Er sah sich im Internet um und bestellte Sachen: Kühltasche, Schlafsack, technischen Schnickschnack. Ich kaufte Landkarten von den Vereinigten Staaten. Eine große vom ganzen Land und mehrere von den Staaten im Süden, die wir vermutlich durchqueren würden. Ich studierte sie bis tief in die Nacht. Als die Reise immer konkreter wurde, versuchte ich mich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass ich keine andere Wahl mehr hatte, als eine bereits getroffene Entscheidung zu akzeptieren, und schrieb dann meine eigenen Bedingungen in den Handel, sehr darum bemüht, unser gemeinsames Leben nicht in Einzelposten aufzulisten wie in einer Steuererklärung und eine Art moralische Aufrechnung von Verlusten, Guthaben und steuerpflichtigen Gewinnen zu erstellen. Mit anderen Worten, ich bemühte mich sehr, nicht jemand zu werden, den ich irgendwann verabscheuen würde.

      Ich könnte diese neuen Umstände nutzen, sagte ich mir, um mich beruflich neu zu erfinden, mein Leben anders zu gestalten – und ähnliche Ideen, die nur in Horoskopen bedeutungsvoll klingen oder wenn jemand durchdreht und jeden Sinn für Humor verloren hat.

      An besseren Tagen, wenn ich meine Gedanken ein wenig vernünftiger sortierte, sagte ich mir, dass unsere berufliche Trennung keinen tieferen Bruch in unserer Beziehung zur Folge haben musste. Eigenen Projekten nachzugehen sollte nicht zwangsläufig zur Auflösung unseres gemeinsamen Lebens führen. Wir könnten in Richtung Süden fahren, sobald das Schuljahr der Kinder endete, und an unseren jeweiligen Projekten arbeiten. Ich wusste noch nicht wie, aber ich könnte vielleicht anfangen zu recherchieren und langsam ein Archiv aufbauen und meinen Fokus auf die Flüchtlingskinderkrise über das New Yorker Einwanderungsgericht hinaus auf die geografischen Brennpunkte in den südlichen Grenzländern erweitern. Das war eine naheliegende Entwicklung in der Recherche an sich, aber auch eine Möglichkeit, unsere beiden sehr unterschiedlichen Projekte miteinander zu vereinbaren. Zumindest fürs Erste. Und zumindest insofern, uns als Familie auf eine Reise in den Südwesten zu begeben. Danach würde uns etwas einfallen.

      ARCHIV

      Ich

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