Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli

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Archiv der verlorenen Kinder - Valeria  Luiselli

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Schwächen unserer Kinder aus. Meine Tochter hat ein Jahr lang gestottert, erzählte ich ihr, und phasenweise gar nicht mehr gesprochen. Sie fing jeden Satz an, als müsste sie gleich niesen. Irgendwann stellte sie fest, dass sie nicht stottert, wenn sie einen Satz singt, anstatt ihn zu sprechen. Ihr Sohn, erzählte mir die Frau, hatte seit fast sechs Monaten kein Wort gesagt, in keiner Sprache.

      Wir fragten einander, woher wir kamen und welche Sprachen wir zu Hause benutzt hatten. Sie kam aus der Mixteca-Region. Ihre erste Sprache war Trique. Ich hatte diese Sprache noch nie gehört und wusste nur, dass es eine der komplexesten tonalen Sprachen ist, mit mehr als acht Tonhöhen. Meine Großmutter war Hnahnu und sprach Otomí, eine einfachere tonale Sprache als Trique, mit nur drei Tonhöhen. Aber meine Mutter lernte diese Sprache nicht, und so lernte ich sie natürlich auch nicht. Meine Frage, ob ihr Sohn Trique beherrsche, verneinte sie und fügte hinzu:

      Unsere Mütter bringen uns das Sprechen bei, und das Leben gewöhnt es uns wieder ab.

      Nachdem wir gewählt hatten und uns verabschieden wollten, stellten wir uns einander vor, was eigentlich umgekehrt hätte laufen sollen. Sie hieß Manuela, genau wie meine Großmutter, ein Zufall, den sie weniger amüsant fand als ich. Ich fragte, ob ich sie irgendwann einmal aufnehmen dürfe, und erzählte ihr von der fast abgeschlossenen Tondokumentation, an der mein Mann und ich arbeiteten. Von Trique hatten wir bisher noch keine Stichprobe – es war eine seltene Sprache, an die nicht leicht heranzukommen war. Sie willigte zögernd ein, und als wir uns ein paar Tage später im Park neben der Schule trafen, bat sie mich als Gegenleistung für ihre Mitarbeit um einen Gefallen. Sie hatte zwei ältere Töchter – acht und zehn Jahre alt –, die gerade in Amerika angekommen waren; die beiden hatten die Grenze zu Fuß überquert und wurden in einer Notunterkunft in Texas festgehalten. Sie brauchte jemanden, der ihre Papiere möglichst günstig oder umsonst aus dem Spanischen ins Englische übersetzte, damit sie einen Anwalt engagieren konnte, der ihre Töchter vor der Abschiebung bewahrte. Ich erklärte mich bereit, ohne zu ahnen, worauf ich mich da einließ.

      VERFAHREN

      Anfangs ging es nur um die Übersetzung von Dokumenten: die Geburtsurkunden der Mädchen, Impfpässe, ein Schulzeugnis. Dann folgte eine Reihe von Briefen, die ein Nachbar in Mexiko geschrieben und an Manuela geschickt hatte, mit detaillierten Berichten über die dortige Lage: die unzähmbaren Wellen der Gewalt, das Militär, die Gangs, die Polizei, das plötzliche Verschwinden von Menschen – meist jungen Frauen und Mädchen. Eines Tages dann bat mich Manuela, sie zu einem Treffen mit einer möglichen Anwältin zu begleiten.

      Wir trafen uns zu dritt in einem Warteraum des New Yorker Einwanderungsgerichts. Die Anwältin ging einen kurzen Fragebogen durch, stellte ihre Fragen auf Englisch, und ich übersetzte für Manuela ins Spanische. Sie erzählte ihre Geschichte und die der Mädchen. Die Familie stammte aus einer kleinen Stadt an der Grenze zu den Provinzen Oaxaca und Guerrero. Vor ungefähr sechs Jahren, als das jüngere der beiden Mädchen zwei wurde und das andere vier war, ließ Manuela sie in der Obhut ihrer Großmutter zurück. Das Essen war knapp, es war unmöglich, zwei Mädchen unter diesen ärmlichen Bedingungen großzuziehen, erklärte sie. Sie überquerte ohne Papiere die Grenze und ließ sich in der Bronx nieder, wo sie eine Cousine hatte. Sie fand einen Job und fing an, Geld nach Hause zu schicken. Geplant war, in kurzer Zeit möglichst viel zu sparen und bald wieder zurückzukehren. Aber sie wurde schwanger, das Leben wurde kompliziert, und die Jahre vergingen schnell. Die Mädchen wurden größer, telefonierten mit ihr, hörten Geschichten über Schnee, über große breite Straßen, Brücken, Verkehrsstaus und später über ihren kleinen Bruder. Als die Situation in Mexiko immer schwieriger und unsicherer wurde, bat Manuela ihren Chef um ein Darlehen und bezahlte einen Schlepper, um die Mädchen zu ihr in die Vereinigten Staaten zu bringen.

      Die Großmutter traf die Vorbereitungen, sagte den Mädchen, es würde eine lange Reise werden, packte ihre Rucksäcke: Bibel, Wasserflaschen, Nüsse, für jede ein Spielzeug, Ersatzwäsche. Sie nähte ihnen identische Kleider, und am Tag vor der Abreise nähte sie Manuelas Telefonnummer an die Krägen der Kleider, weil die Mädchen es nicht geschafft hatten, die zehn Zahlen auswendig zu lernen, und schärfte ihnen immer wieder ein: Diese Kleider sollten sie nie ausziehen, niemals, und sobald sie in Amerika waren und dem ersten Amerikaner begegneten, egal ob Polizist oder Privatperson, sollten sie ihm oder ihr die Unterseite des Kragens zeigen. Die Person würde dann die Nummer anrufen und sie mit ihrer Mutter sprechen lassen. Der Rest würde sich ergeben.

      Und das tat er, nur nicht wie geplant. Die Mädchen schafften es sicher bis zur Grenze, doch der Schlepper brachte sie nicht hinüber, sondern ließ sie mitten in der Nacht in der Wüste zurück. Im Morgengrauen wurden sie von der Border Patrol gefunden; sie saßen am Straßenrand in der Nähe eines Kontrollpunktes und wurden in ein Auffanglager für unbegleitete Kinder gebracht. Ein Beamter rief Manuela an und erklärte ihr, dass man die Mädchen gefunden hatte. Er klang freundlich und nett, sagte sie, zumindest für einen Officer der Border Patrol. Laut dem Gesetz, sagte er, müssten Kinder aus Mexiko und Kanada, anders als Kinder aus anderen Ländern, sofort zurückgeschickt werden. Es sei ihm gelungen, sie in Gewahrsam zu nehmen, doch von jetzt an bräuchte sie einen Anwalt. Bevor er auflegte, durfte sie mit den Mädchen sprechen. Er gab ihnen fünf Minuten. Es war das erste Mal seit ihrer Abreise, dass sie ihre Stimmen wieder hörte. Das ältere Mädchen sagte, es ginge ihnen gut. Das jüngere atmete nur in den Hörer und schwieg.

      Nachdem die Anwältin Manuelas Geschichte gehört hatte, bedauerte sie, den Fall nicht annehmen zu können. Er sei nicht »hieb- und stichfest«, weitere Gründe lieferte sie nicht. Manuela und ich wurden aus dem Raum geführt, durch Gänge, Aufzüge nach unten und zum Gebäude hinaus. Wir gingen zum Broadway – es war später Vormittag – und die Stadt vibrierte, der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien über hohen, soliden Gebäuden, als wäre nichts Schlimmes passiert. Ich versprach, ihr bei der Suche nach einem guten Anwalt zu helfen und sie auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen.

      GEMEINSAMES ARCHIVIEREN

      Es wurde Frühling, mein Mann und ich reichten unsere Steuererklärung ein und wir lieferten das Material für das Soundscape-Projekt ab. In New York gab es über achthundert Sprachen, und nach vier Jahren Arbeit hatten wir von fast allen Stichproben. Endlich konnten wir weitermachen. Es ging voran, aber nicht unbedingt gemeinsam.

      Ich hatte mich weiter mit der Rechtssache gegen Manuelas Töchter beschäftigt. Der Anwalt einer Non-Profit-Organisation hatte den Fall schließlich angenommen. Die Mädchen waren zwar noch immer nicht bei ihrer Mutter, aber zumindest von einer brutalen, halb geschlossenen Jugendstrafanstalt in Texas in eine angeblich humanere Umgebung verlegt worden – ein ehemaliges Walmart-Zentrum in der Nähe von Lordsburg, New Mexico, das man in eine Notunterkunft für Minderjährige umgebaut hatte. Um in dem Fall auf dem Laufenden zu bleiben, hatte ich mich ein wenig mit Einwanderungsrecht befasst, Anhörungen im Gericht besucht und mit Anwälten gesprochen. Manuelas Fall war einer von Zehntausenden ähnlicher Fälle im ganzen Land. Mehr als achtzigtausend Kinder ohne Papiere aus Mexiko und dem Nördlichen Dreieck Zentralamerikas, vorwiegend aber aus Letzterem, waren allein in den vergangenen sechs oder sieben Monaten an der südlichen Grenze in den Vereinigten Staaten verhaftet worden. Diese Kinder flohen aus Verhältnissen, die von schlimmem Missbrauch und systematischer Gewalt geprägt waren, flohen aus Ländern, in denen Gangs wie Parastaaten agierten und die Macht und die Herrschaft des Gesetzes übernommen hatten. Sie waren in die Vereinigten Staaten gekommen, um Schutz zu finden, und suchten nach bereits früher ausgewanderten Müttern, Vätern oder Verwandten, die sie vielleicht aufnahmen. Sie suchten nicht den amerikanischen Traum, wie es gewöhnlich immer heißt. Die Kinder suchten nur einen Weg aus ihrem täglichen Albtraum.

      Um diese Zeit fingen einige Radiosender und Zeitungen an, über die vielen Kinder zu berichten, die ohne Papiere ins Land gekommen waren, aber niemand schien die Lage aus der Sicht der betroffenen Kinder zu schildern. Ich wandte mich an die Direktorin des Columbia University Center for Oral History und präsentierte ihr eine noch rohe Idee, wie man die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erzählen könnte. Nach einigem

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