Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
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Wie so?
Wie das, weiß und klein, ohne Bilder auf dem Cover.
GPS
An diesem Vormittag fahren wir durch das Shenandoah Valley, eine mir unbekannte Gegend, die mir jedoch erst gestern Abend – in kleinen Splittern und geborgten Erinnerungen – in Sally Manns Fotos begegnet ist, die sie in diesem Tal aufnahm.
Um die Kinder zu beruhigen und die elend langen Stunden auf den Straßen in die Berge zu füllen, erzählt mein Mann Geschichten über den alten amerikanischen Südwesten. Er erzählt von den Strategien, die Häuptling Cochise anwandte, um sich vor seinen Feinden in den Dragoon und Chiricahua Mountains zu verstecken, und dass er noch nach seinem Tod zurückkam, um sie heimzusuchen. Es hieß, dass man ihn selbst heute noch bei den Dos Cabezas Peaks sichte. Die Kinder hören noch aufmerksamer zu, als ihr Vater vom Leben Geronimos erzählt. Seine Worte bringen uns die Zeit näher, halten sie im Auto fest, sie erstreckt sich nicht mehr vor uns wie ein unerreichbares Ziel. Er hat ihre volle Aufmerksamkeit, und auch ich höre zu: Geronimo war der letzte Mann in Nord-. Mittel- und Südamerika, der sich den Bleichgesichtern ergab. Er wurde Medizinmann. Eigentlich war er gebürtiger Mexikaner, aber er hasste Mexikaner, die von den Apachen nakaiye genannt wurden, »jene, die kommen und gehen«. Mexikanische Soldaten hatten seine drei Kinder, seine Mutter und seine Frau getötet. Er lernte nie Englisch. Für Häuptling Cochise trat er als Dolmetscher zwischen Apachen und Spaniern auf. Geronimo war eine Art heiliger Hieronymus, sagt mein Mann.
Wieso heiliger Hieronymus? frage ich.
Er rückt seine Mütze zurecht und erklärt in langatmiger professoraler Detailverliebtheit, dass der heilige Hieronymus die Bibel ins Lateinische übersetzte, bis ich das Interesse verliere, die Kinder einschlafen und wir beide verstummen, abgelenkt von den plötzlichen Anforderungen des Verkehrs: Autobahnkreuze, Geschwindigkeitskontrollen, Bauarbeiten, gefährliche Kurven, eine Zahlstelle – hast du Kleingeld und reich mir den Kaffee.
Wir folgen einer Karte. Entgegen allen Empfehlungen beschlossen wir, kein GPS zu benutzen. Ich habe eine gute Freundin, deren Vater bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr unglücklich in einer Firma gearbeitet und dann genügend gespart hatte, um seiner wahren Leidenschaft zu folgen und sein eigenes Geschäft zu gründen. Einen Verlag, The New Frontier, der Tausende wunderschöner kleiner Seekarten herstellte, gewissenhaft und liebevoll zugeschnitten auf die Schifffahrt im Mittelmeer. Sechs Monate nach der Gründung seines Verlags wurde das GPS erfunden. Und das war’s: ein ganzes Leben futsch. Als meine Freundin mir die Geschichte erzählte, schwor ich, nie ein GPS zu benutzen. Deshalb verfahren wir uns natürlich oft, besonders wenn wir eine Stadt verlassen wollen. Gerade stellen wir fest, dass wir fast eine Stunde lang im Kreis gefahren und wieder in Front Royal gelandet sind.
STOPP
Auf einer Straße namens Happy Creek werden wir von einer Polizeistreife angehalten. Mein Mann schaltet den Motor aus, nimmt seine Mütze ab, rollt sein Fenster herunter und lächelt der Polizistin zu. Sie will Fahrerlaubnis, Zulassung und Versicherungsschein sehen. Auf dem Beifahrersitz murmele ich missmutig vor mich hin, unfähig, meine tief sitzende, unreife Reaktion auf jede Form von Maßregelung seitens einer Autoritätsperson zu zügeln. Wie ein Teenager beim Abwasch greife ich schwerfällig und genervt ins Handschuhfach, hole die verlangten Papiere heraus und klatsche sie meinem Mann in die Hand. Er wiederum überreicht sie ihr feierlich, als kredenze er ihr heißen Tee in einer Porzellantasse. Sie erklärt, wir seien angehalten worden, weil wir bei dem Stoppschild nicht richtig angehalten haben. Sie zeigt darauf – ein knallrotes achteckiges Ding, das eindeutig die Kreuzung Happy Creek Road und Dismal Hollow Road markiert und eine sehr schlichte Anweisung gibt: »Stopp.« Erst jetzt sehe ich die andere Straße, Dismal Hollow Road; der Name steht in schwarzen Großbuchstaben auf dem weißen Aluminiumschild, eine treffende Bezeichnung für den Ort, den er kennzeichnet. Mein Mann nickt immer wieder, sagt, tut mir leid, und wieder, tut mir leid. Die inzwischen von unserer Unschuld überzeugte Polizistin gibt die Papiere zurück, doch bevor wir weiterfahren dürfen, stellt sie noch eine Frage:
Und wie alt sind diese hübschen Kinder, Gott schütze sie?
Neun und fünf, antwortet mein Mann.
Zehn! verbessert ihn der Junge von hinten.
Sorry, sorry, sorry, klar, zehn und fünf.
Ich weiß, das Mädchen möchte auch etwas sagen und sich irgendwie einmischen, dazu muss ich sie gar nicht ansehen. Wahrscheinlich möchte sie erklären, dass sie bald sechs ist und nicht mehr fünf. Aber sie öffnet nicht mal den Mund. Wie mein Mann und im Gegensatz zu mir, hat sie eine lähmende, angeborene Angst vor Autoritätspersonen, eine Angst, die sich bei beiden in Form von großem Respekt bis hin zur Unterwürfigkeit zeigt. Bei mir äußert sich dieser Instinkt als trotziger Widerwille, einen Fehler einzugestehen. Mein Mann weiß das und sorgt deshalb dafür, dass ich in brenzligen Situationen den Mund halte.
Sir, sagt die Polizistin jetzt, wir in Virginia sorgen für unsere Kinder. Jedes Kind unter sieben Jahren braucht einen richtigen Kindersitz. Zur Sicherheit des Kindes, Gott möge das Mädchen schützen.
Sieben, Ma’am? Nicht fünf?
Sieben, Sir.
Tut mir leid, Officer, wirklich. Ich – wir – hatten keine Ahnung. Wo können wir hier in der Gegend einen Kindersitz kaufen?
Entgegen meinen Erwartungen lässt sie seinen zugestandenen Fehler im Raum stehen und benutzt seine Niederlage nicht, ihre eigene Macht mit der Verhängung eines Bußgelds auszuspielen. Stattdessen öffnet sie ihre hellrosa geschminkten Lippen und lächelt. Eigentlich ein schönes Lächeln – scheu, aber auch offenherzig. Sie gibt uns eine äußerst detaillierte Wegbeschreibung zu einem Geschäft, ändert dann ihren Tonfall und erklärt uns, welchen Kindersitz genau wir kaufen sollen: Am besten sind die ohne Rückenlehne, und wir sollen darauf achten, dass die Gurtschnallen aus Metall und nicht aus Plastik sind. Am Ende jedoch kann ich meinen Mann überzeugen, nicht anzuhalten, um den Kindersitz zu kaufen. Als Gegenleistung verspreche ich, nur dieses eine Mal den Google Maps GPS zu benutzen, damit wir aus dieser labyrinthischen Stadt hinaus und wieder auf die Straße kommen.
LANDKARTE
Wir fahren weiter Richtung Südwesten und hören die Nachrichten im Radio, Nachrichten über die vielen Kinder unterwegs in den Norden. Sie reisen allein, auf Zügen und zu Fuß. Sie reisen ohne ihre Väter und Mütter, ohne Koffer, ohne Pässe. Und immer ohne Landkarte. Sie müssen Staatsgrenzen und Flüsse überqueren, Wüsten und Schrecken durchstehen. Und wenn sie endlich ankommen, sagt man ihnen, sie sollen warten, und lässt sie im Ungewissen.
Hast du eigentlich was von Manuela und ihren zwei Mädchen gehört? fragt mein Mann.
Ich verneine, nichts. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, kurz vor unserer Abreise aus New York, waren ihre Mädchen noch immer in einer Unterkunft in New Mexico und warteten auf die gesetzliche Erlaubnis, zu ihrer Mutter geschickt zu werden, oder auf den endgültigen Abschiebungsbescheid. Ich habe mehrmals versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht ran. Wahrscheinlich wartet sie immer noch auf eine Nachricht, was mit ihren Töchtern geschieht, und hofft, dass man ihnen Flüchtlingsstatus gewährt.
Was bedeutet »Flüchtling«, Mama? fragt das Mädchen von hinten.
Ich suche nach möglichen Antworten. Ich nehme an, jemand, der flüchtet, ist noch kein Flüchtling. Ein Flüchtling ist jemand, der schon irgendwo angekommen ist, in einem fremden Land, aber noch unbestimmte Zeit warten muss, bevor er tatsächlich ganz angekommen ist. Flüchtlinge warten in Untersuchungsgefängnissen, Notunterkünften oder Lagern; in Bundeshaft und unter der Aufsicht von