Das Licht und der Bär. Rudolf Alexander Mayr
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Wir verbrachten die Nacht in den Zelten, die unsere Sherpas in einer einladenden Senke aufgeschlagen hatten, und am nächsten Tag bummelten wir vergnügt weiter über den Moränenrücken. An diesem zweiten Tag zogen Wolken über den Horizont, helle, ja durchdringend weiße Wolken, wie von innen beschienen und doch an ihren Rändern scharf gegen das schwarze Blau des Himmels abgegrenzt. Sie hatten die Formen von Schiffen und großen Köpfen und Tieren, und ich begriff, warum die Tibeter einen jahrtausendealten, vertrauten Umgang mit dem Universum pflegen.
Unser Freund Helge war schon etwas voraus, aber Maria Peters und ich gingen knapp hintereinander und blieben auch fast zeitgleich stehen, als wir unterhalb unseres Weges einen Yak liegen sahen. Er lag dort mutterseelenallein. Sein braungraues Fell hob sich kaum vom kurzen, dürren Gras ab, als wäre auch er aus der umgebenden Landschaft geformt. Maria und ich nutzten den Anblick, um eine kurze Pause zu machen und zu verschnaufen. Der Yak bewegte sich lange Zeit überhaupt nicht, er lag nur ergeben da, und da erkannten wir, dass mit dem Tier irgendetwas nicht stimmte. Dann bewegte es seinen Kopf, aber nur ganz wenig und wie unter großen Mühen, und wir dachten, dass es im Sterben läge, weil es von hier aus abgestürzt oder altersschwach oder anderweitig verletzt war. Schließlich setzten wir unseren Weg fort und errichteten am nächsten Nachmittag unser Hochlager auf ziemlich genau sechstausend Metern Höhe.
Von hier konnten wir fast eben zum Nangpa La blicken, jenem berühmten, vergletscherten Pass, über den etwa fünfhundert Jahre früher die Sherpas, aus Osttibet kommend, nach Nepal gezogen waren und sich dort auf immer niedergelassen hatten. Wir wussten, dass dieser Pass noch immer auf einer der wichtigsten Fluchtrouten der Tibeter lag, wenn sie ihr besetztes Heimatland verlassen wollten oder mussten. Und genauso wussten wir, dass – ähnlich wie einst an der Berliner Mauer – ein genereller Schießbefehl seitens der chinesischen Behörden diese Fluchtversuche vereiteln sollte und dass dieser Befehl auch befolgt wurde. (Fünfzehn Jahre später sollten alle Erwachsenen einer Gruppe hier, auf der Flucht, von mit Zielfernrohren ausgerüsteten Militärs erschossen werden. Es waren sechzehn Erwachsene. Ihre Leichen warf man in Gletscherspalten und ihre Kinder brachte man in staatliche chinesische Erziehungsheime. Das Massaker ereignete sich Ende September 2006 unter den Augen von Bergsteigern und Sherpafreunden und wurde sogar von einem bulgarischen Kameramann in einem Film dokumentiert. Aber die Medien unserer westlichen Welt waren zu feige, über den Vorfall zu berichten.)
Wir selbst erkundeten in den folgenden Tagen den Zugang zum Palung Ri, einem Siebentausender gegenüber des Cho Oyu, und während unser Freund Salami Dawa nach einem brauchbaren Pfad zwischen den großen Felsblöcken suchte und auf einen toten Tibeter stieß, der auf der Flucht vor der chinesischen Polizei hier heroben – in der scheinbar friedlichsten Gegend der Welt, auf sechstausenddreihundert Metern – den Tod gefunden hatte, erhielten wir anderen im Lager Besuch von drei jungen Männern.
Sie torkelten mehr, als sie gingen, und beim Näherkommen erkannte ich, dass sie schneeblind waren. Wir legten sie auf eine Isoliermatte, und ich brachte ihnen Dexagenta-Salbe in die Bindehautsäcke ein. Sie hielten ganz ruhig und bewegten sich nicht. Als ich ihnen jedoch sagte, sie sollten liegen bleiben, um wenigstens eine halbe Stunde zu schlafen, sprangen sie auf und sagten, dass die Salbe schon wirke. Ja, sie wirke schon – und sie könnten wieder sehen, und überhaupt wäre ihnen die Polizei auf den Fersen. Sie würden erschossen werden, sagten sie, wenn sie erwischt würden, und ließen sich nicht aufhalten. Gleich darauf hielten sie auf große Felsblöcke hinter dem Lager zu, mit deren Grau sie bald verschwammen.
Einige Tage später machten wir uns wieder auf den Heimweg. Wieder war der Himmel wolkenlos, und sein dunkles Blau umrahmte die Konturen der langsam kleiner werdenden, weiß schimmernden Berge. Bergab und talauswärts schlenderten wir leichtfüßig dahin, und der Wind trieb uns den Duft von Wacholder entgegen und ließ die stumpfen, graubraunen Gräser schwanken und ihre silbrigen Unterseiten blinken, als gäbe es noch eine andere, unbekannte Seite an ihnen. Nach fünf oder sechs Stunden Marsch hatten wir wieder die Stelle erreicht, wo wir eine Woche zuvor den Yak gesehen hatten.
Er lag noch immer da, den mächtigen Kopf auf die Seite gelegt. Aber er hatte die Augen geöffnet, und wir sahen, wie er im Wind die Lider schloss und wieder anhob. Man hatte ihm einen großen Ballen Heu vor die Nase gelegt und eine Schüssel mit Wasser hingestellt, aber das Tier schien nicht mehr die Kraft zu haben, sich daran zu laben. So saßen wir lange da, Maria und ich, unterhielten uns leise und fanden schließlich, dass hier doch ein Gnadenschuss dem Leiden ein Ende machen könnte. Aber dann wieder schwankten wir in unserer Meinung wie das Gras im Wind, denn der Anblick des Yaks bewegte uns selbst. Wir schwankten und schwankten zwischen der im christlichen Glauben gründenden Vorstellung der Gnade, der die Möglichkeit miteinschließt, das Leid eines Tieres zu beendigen, wenn es denn unumgänglich wäre, und dann wieder der kompromisslosen Haltung der Tibeter, eines jeden Wesen Leben zu respektieren, weil es ihm eben selbst das höchste Gut darstellt.
Nach einer langen Zeit standen wir wieder auf und schulterten unsere Rucksäcke. In unerhörter Heiterkeit nickten uns kleine Glockenblumen am Wegrand zu, und nach Norden hin grüßten ocker- und magentafarbene Wellen aus Hügeln, deren glimmerhaltiger Sand alles Irdische in einen tintenblauen Himmel sandte. Ein Spiegel, so groß, wie die Welt nur sein konnte.
Dieses gleißende Land war das Universum eines Sven Hedin, eines Peter Aufschnaiter, eines Herbert Tichy gewesen. Wir hätten es einfangen wollen, in diesen Minuten, mit den Augen und, wenn es nicht anders ginge, mit den Händen, aber so wie alles Licht zerfloss es uns durch die Finger, und keine Kamera der Welt konnte festhalten, was das menschliche Auge nur für einen Augenblick zu sehen vermochte.
An der nächsten großen Biegung des Weges, bevor wir den Yak aus den Augen verloren, drehten wir uns noch einmal zu ihm um. Er hatte sich nicht mehr bewegt. In der graubraunen Landschaft bildete sein Fell einen kaum mehr wahrnehmbaren Fleck, wie die ferne, ferne Erinnerung an eine Zeit, als man dieses Land noch als heilig empfand.
Die Spucknäpfe von Xangmu
Als im Jahre 1988 die kommunistische Führung Chinas das besetzte Tibet für den Tourismus zugänglich machte, war Wolfi mit einer kleinen Gruppe von gemeinsamen Freunden einer der Ersten, die einen Teil dieses großen, weiten Landes bereisten. Wenn man von Nepal kommt, ist Kodari der letzte Ort vor der Grenze. Der Reisende tut gut daran, sich hier auf einen jähen Paradigmenwechsel einzustellen.
In diesem kleinen nepalesischen Grenzdörfchen war alles von Leben erfüllt, selbst die in der milden Sonne glitzernden Müllhaufen schienen eine Heiterkeit auszustrahlen, die ihren Kollegen jenseits des sechs Meter hohen Eisentores, das die beiden Länder trennt, völlig zu fehlen schien. Alles hier bestand aus Leben, die Kinder und die Katzen und Hunde und jungen Ziegen hüpften im Staub herum, und die Gesichter der Erwachsenen zeigten einen freundlichen Gleichmut, der den anderen Menschen jenseits des Eisenzauns, ähnlich wie Gefangenen, völlig abhandengekommen zu sein schien.
Ich kann mich an die damaligen Erzählungen meiner Freunde nur allzu gut erinnern. Wie sie durch die geöffneten Gittertüren schritten (die sich jeden Tag um Punkt sechs Uhr abends wieder schließen) und dann zu Fuß – es musste sämtliches Gepäck von den Yaks abgeladen und über die Fußgängerbrücke, die sogenannte Brücke der Freundschaft, getragen werden – die jenseitige, auf tibetischem Territorium gelegene Ortschaft Xangmu erreichten, um dort von finster blickenden chinesischen Soldaten in olivgrüner Uniform und Zöllnern mit roten Sternen auf den Tellermützen sehr harsch und abweisend kontrolliert zu werden. Dem einzigen Hotel am Platz zugewiesen, bekam ein jeder sein Zimmer zugeteilt, um feststellen zu müssen, dass die durchaus atemberaubenden Zimmerpreise nicht mit dem Standard korrelierten. Zwar stand in jedem Zimmer ein geräumiger Spucknapf in der Ecke, die Fensterstöcke und