Krautrock. Henning Dedekind

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Krautrock - Henning Dedekind

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die versucht haben, etwas zu verändern.«

      Gesellschaftlich-kulturelle Wechselwirkungen aller Art werden überall eingehend unter die Lupe genommen. Die Sexuelle Revolution, der Titel eines 1966 erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Buchs von Wilhelm Reich, ist ein Stichwort der Zeit. Nach Auffassung des Autors führen Doppelmoral und Unterdrückung der sexuellen Triebe zu Aggression und Frustration, die sich in einer Lust an Herrschaft und Hierarchie entladen. Die Unterdrückung der Sexualität lähmt zudem die kreativen Potenziale des Einzelnen und stützt so das kapitalistische System, in welchem der Mensch seiner Unterdrückung nichts mehr entgegensetzen kann. Daraus folgt: Eine Befreiung der Sexualität bedeutet auch die friedliche Veränderung gesellschaftlicher Strukturen.

      Die bürgerliche Moralgesellschaft fühlt sich bedrängt und reagiert mit Entrüstung: Ende der Sechzigerjahre kommt es vor einem Flensburger Gericht zum spektakulären Prozess gegen die Sex-Großhändlerin Beate Uhse, die wegen des Verkaufs von Spezialpräservativen schließlich zu einer Geldstrafe von 6.000 Mark verurteilt wird. Dies erfülle »den Tatbestand einer unnatürlich gegen Zucht und Ordnung verstoßenden Aufpeitschung und Befriedigung geschlechtlicher Reize«, heißt es in dem Urteil.

      Die moderne Medienkultur mit ihren Freiheiten – und Gefahren – muss erst noch erfunden werden. Der jungen Generation der Sechziger geht es zunächst darum, »eigene Wege zu finden, in jedem Bereich zu experimentieren«, wie Roman Bunka die Motivation seiner Zeitgenossen beschreibt. »Man hat in allen möglichen Richtungen Tiefen ausgelotet und neue Horizonte gesucht. Das hieß auch, dass man länger geprobt hat, ganze Nächte durchgemacht hat.« Der Weg von der Selbsterfahrung zur Selbstfindung und schließlich zur Selbstbefreiung scheint vorgezeichnet. Die freiheitlichen Ansätze durchdringen auch das Denken der Musikschaffenden. Irmin Schmidt: »Wir wollten Musik machen, die so ist, wie wir eben sind, wie wir in unserer speziellen Umwelt geworden sind.«

      »Kulturstress«:

      Atomare Bedrohung und gesellschaftliche Polarisierung

      »Die Russen haben gesagt, bis hierher und nicht weiter, sonst werfen wir eine Atombombe.«

      – Peter Leopold –

      Mit der zunehmenden Entfremdung von Bürger und Staat entwickelt sich auch ein neues Bewusstsein für die außenpolitische Situation Deutschlands. So finden nach dem Vorbild der britischen »Campaign for Nuclear Disarmament« bereits 1960 die ersten »Ostermärsche« gegen die atomare Aufrüstung statt, die sich später zur »Kampagne für Abrüstung« und schließlich zur gesellschaftskritischen Massenbewegung »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« entwickeln. Von 1960 bis 1968 steigt die Zahl der Teilnehmer von 1.000 auf rund 300.000.

      Nach der Amtsenthebung Chruschtschows im Jahre 1964 vollzieht sich ein Wandel im Verhältnis der beiden Supermächte. Die Gefahr eines dritten Weltkrieges scheint vorerst gebannt. Dem Kalten Krieg folgt nun eine Phase der Entspannung, in der sich sowohl die USA als auch die UdSSR zumindest um die Wahrung des Status quo bemühen. Für Deutschland bedeutet dies die Festschreibung als geteilte Nation, Atomwaffenstandort und Pufferzone für den Ernstfall. Eine solch massive Bedrohung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Orientierung der jungen Musikergeneration. Roman Bunka:

      »Durch die atomare Nachrüstung stand man nun zwischen zwei Atommächten und wusste, wenn irgendetwas passiert … diese atomare Bedrohung war sehr präsent, und wir befanden uns an der Schnittstelle. Diese Situation erzeugte für junge Leute einen ganz speziellen Kulturstress. Deshalb schaute man überall anders hin, weil man sich sagte, ›Was soll bei dieser Scheiße hier denn noch herauskommen? Da dreht sich alles nur im Kreis.‹ Also schaute man verstärkt danach, was im Orient, in Afrika oder bei den Eskimos los war. Man wollte an irgendetwas anschließen, das uns wieder vorwärtsbrachte.«

      Die Jugend fühlt sich von der Wohlstandsgesellschaft betrogen. In ihren Augen haben sich die Eliten diskreditiert, und eine neue Linke propagiert nun offen den zivilen Ungehorsam. Im deutschen Untergrund gärt eine explosive Mischung aus umstürzlerischen Ideen, kreativer Energie und nicht kanalisiertem Tatendrang. Was fehlt, ist nur noch die Initialzündung. Lothar Stahl hat diese Zeit in Karlsruhe miterlebt: »Es gab ständig Demos. Als Schüler sind wir da begeistert mitgerannt, wenn man auch nicht immer ganz genau wusste, worum es eigentlich ging. Aber Rebellion war einfach angesagt.«

      Ausgehend von Bemühungen um bildungspolitische Reformen entwickelt sich eine vorwiegend von Studenten getragene Protestbewegung, die gesellschaftliche Veränderung und eine Demokratisierung aller Lebensbereiche fordert – und die sich in Ermangelung einer parlamentarischen Opposition bald als außerparlamentarische Opposition (APO) versteht. In den Protesten findet eine lang angestaute, weltweite Identitätskrise der Demokratie ihren Ausdruck, die ihre Wurzeln in einer zunehmenden Bürokratisierung und Selbstgefälligkeit der Konsumgesellschaft hat. Diese Konsumgesellschaft hat für Abweichler und Andersdenkende nur wenig übrig. Hellmut Hattler:

      »Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war die gesellschaftliche Polarisierung ohnehin schon sehr stark. Wenn du dann gesagt hast, du willst raus aus dem bürgerlichen Ding, dann warst du sofort abgestempelt, und zwar nicht nur als Gammler. Die Leute waren zum Teil richtig aggressiv. Was man sich von stinknormalen Leuten auf der Straße zuweilen anhören musste, glaubt man heute gar nicht mehr: ›Zuchthaus, an die Wand stellen‹ – das gab es damals alles noch. Das war nicht alles so lustig, wie sich das heute anhört.«

      Gegen Ende des Jahrzehnts kommt es in Berlin zu Studentenunruhen, die sich zur Bewegung der sogenannten 68er ausweiten. Die Zeit für den Umbruch scheint gekommen. »Man war liberal, anarchisch, man hat keinen Millimeter frei gegeben«, erzählt Peter Leopold, der zu den politisch wie musikalisch radikalsten Köpfen zählt. »Wir wollten alles ganz anders machen.« Es sind dieselben politisch-gesellschaftlichen Ursachen, die nun auch in der Musik eine Palastrevolte einläuten.

TEIL II: Aufbruch

      4. »Etwas Eigenes machen«:

      Musik und Identität

      »Wenn ich an die späten Sechziger zurückdenke, weiß ich, dass ich zunächst zunehmend unzufriedener geworden bin und dann angefangen habe, nach irgendwelchen neuen Wegen zu forschen. Ich hatte noch gar keine klare Vorstellung, wohin das gehen sollte.«

      – Michael Rother, Gitarrist von Kraftwerk, NEU! und Harmonia –

      »Wir waren auf der Suche nach unserer eigenen Identität. Es war ein Bedürfnis, etwas Eigenes zu machen.«

      – Lothar Stahl –

      »Wir hatten diese ganze Geschichte satt!«

      – Hans-Joachim Irmler –

      Noch Anfang 1966 dröhnen aus deutschen Übungskellern holprige Versionen von »(I Can’t Get No) Satisfaction« oder »Sweet Little Sixteen«. Andere bemühen sich in heute längst vergessenen Eigenkompositionen, dem Sound aus Übersee möglichst nahezukommen. 1967 gelingt der nach britischem Muster geformten Beat-Kapelle The Rattles mit »The Witch« sogar der erste internationale Hit aus Westdeutschland. Nach wie vor aber hängt die deutsche Rockmusik am Rockzipfel ihrer großen angelsächsischen Schwester. »Ich habe mich damals immer noch an englischen und amerikanischen Musikern orientiert«, gesteht der ehemalige Düül-Schlagzeuger Peter Leopold rückblickend.

      Viele Bands sind es jedoch leid, als zweitklassige Kopien den Samstagabend im Jugendclub zu bestreiten. »Ich glaube, wir sind die erste Generation, die das abschüttelte«, so Ralf Hütter (Kraftwerk) 1975 in einem Interview mit

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