Drecksarbeit. Jan Stremmel
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TRADITIONELLE FISCHERBOOTE AUS BUNT BEMALTEM HOLZ LAGEN SCHIEF AUF HANDBALLGROSSEN VULKANSTEINEN, SCHWARZ UND HEISS WIE HERDPLATTEN. DIESE STRÄNDE WAREN TOT, ABGENAGT BIS AUF IHR SCHWARZES GERIPPE.
Auf dem Klo spritzte ich mir lauwarmes, nach Eisen riechendes Flugzeugwasser ins Gesicht. Was für ein zynischer Zufall: Fünf Menschen wurden ausgerechnet in dem Flugzeug gefesselt nach Afrika deportiert, in dem ich unterwegs war, um über eines der vielen Probleme zu berichten, wegen der Menschen Afrika verlassen. Ich schlief während des Fluges keine Sekunde. Ich war aufgewühlt.
Aber auch mein eigenes Thema beschäftigte mich. Das Ganze klang für mich immer noch unglaublich. Auf den Kapverden, einem der beliebtesten Strandparadiese der Welt, verschwanden die Strände. Weil sogenannte ladrões de areia, Sandräuber, sie illegal wegschaufelten. Warum um Himmels willen taten sie das? Und was passierte mit dem Sand?
Mit diesen Fragen im Kopf landete ich weit nach Mitternacht auf dem Aeroporto Internacional Nelson Mandela. Meine Kollegen Vanessa und Andi, mit denen ich eine Reportage über den Sandraub drehen würde, waren schon früher geflogen, mit der TAP-Verbindung über Lissabon, die bei Touristen beliebt ist und den Fluggästen den Anblick von Afrikanern in Handschellen erspart.
Als ich in den heißen Ostwind hinaustrat, der auch nachts noch von Afrika her in die Palmen blies wie ein Föhn, war mein Mund trocken und die Beine juckten vom langen Sitzen. Die Außenwände des Flughafens waren bemalt mit Fischern, die ihre Netze vom Land aus in tiefblaues Wasser warfen. Es war eine Vorschau auf das, was die meisten Gäste erwarteten, wenn sie hier ankamen: Berge, frischen Fisch, herrliche Strände.
Neben einem schwarzen Kleinwagen wartete Celestino, unser Mann vor Ort. Trotz der immer noch sechsundzwanzig Grad steckte sein frisch gebügeltes Hemd perfekt in der frisch gebügelten Hose. In der Hand hielt er eine Flasche Wasser für mich. Ich mochte ihn sofort. Celestino hatte sein ganzes Leben hier auf Santiago verbracht, der größten Insel der Kapverden. Er arbeitete als Englischlehrer in Praia, der Hauptstadt, und wenn er Urlaub hatte, half er ausländischen Reportern bei der Arbeit. Solche einheimischen Helfer nennt man Fixer, und oft liegt es an ihnen, ob eine Recherche ein Erfolg wird oder eine Katastrophe. Celestino hatte den Kontakt zu Sandräubern hergestellt und sie überredet, sich bei ihrer illegalen Tätigkeit begleiten zu lassen.
Hinter mir ratterten die Plastikkoffer der erschöpften Urlauber in Richtung der Hotelbusse, die schon mit laufendem Motor auf sie warteten. Die meisten würden morgen oder übermorgen, nach einem kurzen Rundgang durch die Hauptstadt, weiterfahren, per Fähre auf die nördlich gelegenen Inseln Boa Vista oder Sal, mit ihren All-inclusive-Resorts und paradiesisch weißen Surf-Stränden. Celestino und ich schlugen die Gegenrichtung ein: westwärts; in die Gegend, die die meisten Gäste auch bei Tag nie sehen würden – vermutlich auch nicht sehen wollten, wenn sie wüssten, wie es dort aussieht. Celestino schaltete das Radio an und kurbelte das Fenster hoch. Das Zischen der Klimaanlage vermischte sich mit Afropop. Bald ließen wir die beleuchteten Straßen hinter uns.
Die neun kapverdischen Inseln trotzen sechshundert Kilometer westlich des Senegal dem Atlantik. Ursprünglich waren sie unbewohnt; bis Portugal sie besetzte und jahrhundertelang als Verladehafen nutzte, für das seinerzeit wertvollste Exportgut, das der europäische Kolonialismus aus Afrika zog: Sklaven. Heute sind die Kapverden eines der beliebtesten Urlaubsziele des Kontinents. Das Klima ist angenehm, das Essen nicht zu ungewohnt, das Land sicher. Cabo Verde ist eine der wenigen Demokratien Afrikas; die Menschen sind für afrikanische Verhältnisse wohlhabend. Sein Markenzeichen trägt das Land schon im Namen der Hauptstadt: Praia bedeutet nichts anderes als Strand. Bald, dachte ich, könnte der Name ein leeres Versprechen sein; genau wie die »gute Luft« von Buenos Aires. Eine Erinnerung an bessere, lang vergangene Zeiten.
Für eine Diebin fing Dita ziemlich spät mit der Arbeit an. Sie stahl ihre Beute nicht im Schutz der Dunkelheit, wie ich erwartet hatte. Sondern tagsüber, von acht bis vier. Es war schon hell und backofenheiß, als sie hinter der verabredeten Linkskurve irgendwo in den ausgedörrten Hügeln über Porto Gouveia unter einem Ölbaum hervortrat. Sie blickte sich um; dann hob sie zögernd die Hand. Eine Frau mit den kräftigen Schultern einer Arbeiterin und dem sanften Gesichtsausdruck einer vierfachen Mutter. »Bom dia«, murmelte sie, während sie die Gruppe musterte, die ihr da aus dem Auto entgegenstieg: Zwei blonde Männer, einer davon mit Kamera, das war Andi; eine Frau mit Klemmbrett, Vanessa, die Redakteurin; und schließlich Celestino, unser Fahrer und Übersetzer.
Dita trug Flip-Flops und die übliche Kleidung ihres Berufsstands: Ein sonnengebleichtes Top und zwei luftige Baumwolltücher. Das eine um die Hüfte geschlungen, das andere um den Kopf, als kleine, aber wirkungsvolle Maßnahme gegen den Staub und die Sonne, ihre größten Gegner, noch vor der Polizei. Die kam auch immer wieder vorbei, aber tat inzwischen nur noch wenig, wie ich später erfuhr. Man nahm Dita das Werkzeug weg, ein paar Eimer und Schaufeln, oder verlangte ein kleines Schmiergeld.
Ditas Arbeit bestand darin, Sand zu stehlen und zu verkaufen. Ich kannte sie noch keine zehn Minuten, aber konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich den Job wegen der spannenden Arbeit an der frischen Luft ausgesucht hatte. Sandräuber wurde man, weil die Kinder Hunger hatten – und weil man keine andere Möglichkeit sah, das zu ändern. Dita war eine von geschätzt Hunderttausenden in diesem Geschäftszweig, allein an der afrikanischen Westküste.
Wir stolperten und rutschten Dita hinterher, eine Böschung hinab durch dornige Sträucher. Ringsum erhoben sich staubfarbene Hügel. Das Meer musste noch kilometerweit entfernt sein. »Laufen wir bis zum Strand?«, fragte ich Dita, die unten stehen geblieben war und mit geübter Handbewegung eine Fliege von ihrem Gesicht verscheuchte. »Não, wir bleiben hier.« Ich blickte mich um, wir standen in einem Flussbett. Es sah aus, als wäre der letzte Tropfen Wasser hier vor hundert Jahren geflossen. »Am Strand«, sagte sie und lächelte, »gibt es schon lang keine Arbeit mehr.«
Was sie damit meinte, sah ich in den Tagen danach. Wir besuchten mit Celestino fünf verschiedene Strände entlang der Küste. Nirgendwo lag Sand. Traditionelle Fischerboote aus bunt bemaltem Holz lagen schief auf handballgroßen Vulkansteinen, schwarz und heiß wie Herdplatten. Strandgäste sahen wir nirgends. Baden wäre auch riskant für die Fußknöchel gewesen; die Brandung rollte die Steinblöcke mit einem malmenden Grollen das Ufer rauf und runter, als wolle sie die Brocken so schnell wie möglich wieder zu Sand verarbeiten. Bis vor kurzem hatte der hier noch überall gelegen, als schützende Decke vor dem steigenden Meeresspiegel, als Zuhause für Pflanzen und Fische, als Nistplatz für Schildkröten. Damit war es vorbei. Auch wenn das Meer und die schönen alten Boote für ahnungslose Besucher durchaus als Idyll durchgehen konnten: Diese Strände waren tot, abgenagt bis auf ihr schwarzes Gerippe.
Und so gruben sich Dita und die anderen Räuber jetzt die Flüsse hinauf, dem Weg in umgekehrter Richtung folgend, den der Sand eigentlich über Jahrhunderte aus dem Inland nahm. Im Flussbett warteten eine Freundin und zwei von Ditas Kindern. Sie hielten rostige Spitzhacken und Schaufeln mit zersplitterten Holzgriffen. Außerdem lag da eine zerdengelte Blechschublade, in die man offenbar vor vielen Jahren mit einem Nagel kleine Löcher gehauen hatte: ein selbst gebautes Sieb.
WÄHREND DIE GÄSTE AUS EUROPA AUF DER EINEN INSEL IN BEQUEMEN NEUBAUTEN IHREN STRANDURLAUB GENOSSEN, SCHAUFELTEN DIE LADRÕES DE AREIA AUF DER NACHBARINSEL DIE STRÄNDE WEG, UM NACHSCHUB FÜR DIE BAUSTELLEN ZU LIEFERN.
Der Arbeitsablauf, an dem ich heute für einen Tag teilnehmen