Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

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Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg

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bescheidenen Büro der siebziger Jahre, die Arme meist verschränkt beim Zuhören, konzentriert zuhörend, gespannt, aber unverkrampft, und immer ein bisschen gierig, aber höflich gierig auf die neusten Nachrichten aus Frankreich, und wie er einem dann mit gescheiten Fragen auf die Sprünge helfen konnte, weil er halt sehr viel wusste über Frankreich, aber auch über die übrige Welt –

      so wird er mir im Gedächtnis bleiben.

      Wie er dann lachte, wenn man gemeinsam der Lächerlichkeit der Macht auf die Schliche gekommen war, wie es ihn manchmal richtig schüttelte von innen heraus und er dann jeweils sagte: Isch scho verruckt! Und wie er also immer wieder staunen konnte über die Verrückten, welche ihre Verrücktheit als Normalität deklarieren oder gar zur Norm erheben, weil ihre Machtfülle ihnen das gestattet, und wie er dann fragte, ob man nicht einmal etwas mit diesem Foucault machen könne, der etwas von der Macht verstand, und wie er dann das Interview auch wirklich druckte, ein langes, fast ungekürztes Gespräch zu einer Zeit, vor zwanzig Jahren, als das universitäre Milieu der Schweiz Foucault noch kaum registriert hatte, und wie es dann ins Blatt kam, ohne Schnickschnack in der Aufmachung, sondern mit einem Layout, welches dem Text angemessen war – nämlich so, dass die Leserinnen und Leser eine redaktionelle Seite ohne weiteres von einer Inserateseite unterscheiden konnten –

      ja, das wird man nicht vergessen.

      Immer wieder staunen konnte er. Staunen als Subversion, und nach dreissig Jahren Journalismus noch nicht ausgestaunt und abgebrüht. Arbeitete ohne Autotelefon, ohne Laptop und Modem, aber mit Bibliothek. Hat sich seine demokratische Seele nicht verbrühen lassen in der Lauge des Managertums und der organisationellen Gschaftlhuberei. Vom Text-Management hielt er nichts, er nannte sich Redaktor, war auch kein Bereichsleiter. Kein Freund von redaktionellen Organigrammen und anderen Machtinstrumenten, und hat seine Meinung geschrieben, bevor eine Marktforschung oder eine Meinungsumfrage geklärt hatte, was die Mehrheit lesen wollte. Er war mehr am Gedankenfluss als am cash flow interessiert. Nur waren seine Meinungen halt derart solid verwurzelt, dass die Motsch-Köpfe und Sirup-Fröschli, welche Journalismus und Beruhigungstherapie miteinander verwechseln oder Denken mit Design, ihm nicht am Zeug flicken konnten, denn sie wussten immer weniger als er, und das war genierlich, aber nicht für ihn. Und doch ist er auf seine nette Art immer ein bisschen verlegen geworden, wenn man ihn wieder dabei ertappte, dass er über die Ming-Dynastie oder Mao Tse-tung besser orientiert war als seine Gesprächspartner, oder über Ho Tschi Minh oder Merleau-Ponty oder de Gaulle oder Helder Camara oder Louis Althusser oder Pablo Neruda oder Gracchus Babeuf oder Furgler oder Robespierre oder Fouqier-Tinville oder Bartolomé de las Casas oder Juan Gines Sepúlveda oder Jacques Monod und die neuesten Erkenntnisse der Biochemie, denn ach, auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet war er uns über, und vermutlich hat ihn sein Studium als ingénieur agronome gegen alle Ideologien geimpft und gegen die Versuchungen des Totalitarismus, dem die sogenannten Geisteswissenschaftler manchmal hurtig aufgesessen sind, bis sie wieder davon herunterkamen und aus Beschämung zu rabiaten Antikommunisten wurden, in Frankreich zum Beispiel. Er musste also nie gegen die Sünden seiner Jugend anschreiben. Sein Zweitstudium, die Soziologie, hat ihn aber auch nicht zum Positivisten und, obwohl er trefflich über das Wesen der Statistik schreiben konnte, nicht zum Fliegenbeinzähler gemacht. Übrigens war er natürlich viel zu höflich, um die weniger hellen Kollegen als «Sirup-Fröschli» oder «Motsch-Köpfe» zu bezeichnen, nicht einmal «Sängerknaben» hat er sie genannt, wie sein Magazin-Kollege Hugo Leber das zu tun pflegte, doch freute er sich immerhin, wenn ein anderer in seiner Anwesenheit diese Nomenklaturen benützte. Dann schüttelte ihn das Lachen so schön von innen heraus. Wie er es fertigbrachte, bei all seinem Wissen kein Museum zu werden, aber ebensowenig simplizistisch, alles Geschraubte zu vermeiden und mit seiner clarté latine die verschiedensten Stoffe durchsichtig zu machen auf den springenden Punkt hin – das war sein Geheimnis und seine jetzt mit ihm untergegangene Kunst. Vermutlich hatte er einfach die Leute gern, wenn ich es so simpel sagen darf, und wollte ihnen ein Licht aufstecken, als Aufklärer, damit sie über die eigene Nase hinaussehen konnten. Jedes Bildungsprivileg empfand er als Greuel, auch sein eigenes; was er hatte, wollte er weitergeben. «Je ne veux pas mourir idiot», dieser Slogan aus dem Mai 68 hat ihm gefallen, und wenn die allgemeine Idiotie ein paar Millimeter zurückgedrängt werden konnte, wohlte es ihm jeweils.

      Alles Militärische war ihm zuwider, und so konnte er denn die argentinischen, aber auch die schweizerischen Generäle mit der gebührenden Abneigung darstellen und hinstellen. So deutlich wie er hat's niemand in der grossen Presse gesagt. Das Befehl-und-Gehorsam-System habe, so glaubte er, im Journalismus nichts zu suchen, er betrieb management by conviction und hat immer wieder darüber gestaunt, der grosse Stauner, wie viele höhere Feldgraue an den Schaltstellen seiner Firma sassen, die dann auch feldgrau schrieben. (Während er eher das Cézanne-Blau bevorzugte.) Vor dem Militärdienst hatte ihn sein lädierter Fuss bewahrt und vor dem militärischen Denken sein intakter Intellekt. Er freute sich, wenn man ihn darauf hinwies, dass auch der Teufel ein hinkender Bote sei und auf ungleichen Füssen daherkomme wie er selbst, und sagte zu diesem Thema: «Besser ein Bocksfuss als zwei Engelsfüsse» und fügte noch bei, dass er leider kein Schwefelgerüchlein zu verströmen vermöge wie der oder jener und das Dämonische sei bei ihm auf diesen struppierten Fuss beschränkt, leider. Mit solcher Behinderung kommt man weniger gleitig durchs Leben als die Langstreckenläufer des Managertums, und auch beim Erklimmen der Karriereleiter ist so was abträglich, und wenn man dazu auch noch von den Ellenbogen keinen richtigen Gebrauch zu machen weiss und nach der Maxime lebt, dass ein Journalist so viel wert ist wie seine Produktion und nicht so viel wie seine Büroorganisation – ja, dann ist einer selber schuld, wenn er nicht Chef wird. Führen wollte er nur durch die Qualität seiner Ideen und Texte, «der Laden läuft ja von selbst», pflegte er zu sagen, und die formale Hierarchie könnte das Denken nicht herstellen, sondern nur behindern. Da war er schon sehr platonisch eingestellt. In seinem unveröffentlichten Text hat er geschrieben: «Nein, ich habe keine gute Beziehung zur Macht, weder zur aktiven noch zur passiven. Ich übe nicht gern Macht aus, ich ertrage es auch nicht, wenn man auf mich Macht ausübt. In der Chefredaktion, in Vorständen und Exekutivräten nationaler und internationaler Organisationen fühlte ich mich nie wohl. Ich war zwar legitimiert, aber das half mir nichts, wenn ich an einer Redaktionskonferenz, die ich leitete, Kollegen anhalten musste, das oder jenes zu tun. Ich vergass die Legitimation und litt an der verqueren Situation: ein Mensch, der einen andern dazu bringt, etwas zu vollbringen. Grotesk.»

      Das könnte von Orwell sein, den er bewunderte, der auch nie Chefredaktor geworden ist, und mit dieser Einstellung hätte man sich in Barcelona zu Durrutis Zeiten das Leben denken können oder zu Bakunins Zeiten im Jura; aber weniger gut im Zürich der kontrollierten Kontrolleure. Hier wird anders gefuhrwerkt. Ganz im stillen muss auch der bescheidene Peter Frey darunter gelitten haben, dass seine bürokratische Macht sich nie auf der Höhe seines ausgedehnten Wissens und Könnens befand, und manchmal wünschte er sich eine Zeitung, die im Besitz der Produzenten ist wie «Le Monde», wo die unumstrittene journalistische und politische Autorität des Gründers Hubert Beuve-Méry organisch in die administrative Autorität mündete. Peter Frey wurde demgegenüber nur stellvertretender Chefredaktor und dann Mitglied der Chefredaktion, die Weichen konnte er nicht stellen. Gegen den gesellschaftlichen Komfort und die verführerischen Privilegien, welche ihm dieser Posten trotz seiner Machtlosigkeit verschaffte, war er nicht immer gefeit. Wer wäre das? Man wird es sagen dürfen, ohne sein Andenken zu beschädigen.

      *

      Wie hätte Peter Frey diese Abdankungsrede gern gehabt? Ein bisschen sentimental? Oder religiös? Heulen musste ich bei seinem Anblick, einen Tag bevor er starb, der Krebs hatte ihn verwüstet, röchelnd lag er auf dem Sterbebett, schreien hätte ich mögen vor Wut, dass der bescheidene grosse Mann so elend aus der Welt gehen musste und wir jetzt nie mehr etwas von ihm lesen werden, das ist so unerträglich ungerecht. Sein Kopf hat bis vor kurzem gearbeitet wie immer, er hätte doch wohl noch gute zehn Schreib- und Lebensjahre vor sich gehabt. Warum verschwindet er, so kurz nach der Pensionierung? War da nicht vieles noch in seinem Kopf, das heraus wollte? Und das jetzt von seinem Körper sabotiert wurde? Oder war er ausgeschrieben? Seine Art von Schreiben muss mit einer ungeheuren, zehrenden Anstrengung verbunden gewesen sein, wir hatten

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