Tessiner Erzählungen. Aline Valangin

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Tessiner Erzählungen - Aline Valangin

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sind, wie das italienische Sprichwort sagt, von Geburt her Jäger.

      Der Tod des Freundes hatte Herrn Martino recht getroffen. Obschon er mit seinen roten Wangen und seinem spitzen Schnurrbart kühn und unternehmend aussah, so hatte er doch ein weiches Gemüt. Es hieß, er sei einmal auf der Gämsjagd am lichten Tag laut schreiend davongestürzt, weil ihn die unerschütterliche Stille der Berge jäh mit Entsetzen erfüllt habe. Auch war es ihm ungemütlich und er vermied es sorgfältig, wenn immer möglich, sich allein im alten Palazzo aufzuhalten. Die Hallen in den klösterlichen Gängen, die Blicke der alten Herrenbilder an den Wänden, die den Besucher still verfolgten, die Spiegel, das Krachen im Holzwerk, das alles beeindruckte ihn. Vielleicht hatte er auch Furcht vor den Gespenstern, von denen die alte Teresa früher gerne erzählt hatte. Sie sollten im blauen Zimmer herumpoltern und manchmal gewaltig an Teresas Kammertüre geschlagen haben. Wenn auch im Dorf alle wussten, dass die Teresa die Gespenstergeschichten nur erzählt hatte, um den Leuten Angst einzuflößen vor dem Haus, denn sie wollte ganz allein und un­gestört sein, so schaute doch mancher abergläubisch daran em­por, und sicher war auch Herr Martino, obwohl er fast jeden Tag in den Palazzo kam, um dieses oder jenes zu flicken oder zu richten, nicht frei von dieser Angst.

      Seit dem Tode seines Freundes, des Sindaco, blieb er mehr zu Hause. Wenn man ihn traf, setzte er eine jämmerliche Miene auf und seufzte. Er sprach davon, manches sei ihm verleidet. So waren die Sciori nicht erstaunt, als er sie im Herbst darauf in der Stadt besuchte. Er war in ein neues Gewand gekleidet, sein Schnurrbart stand eingefettet spitzig auf beiden Seiten heraus. Ein Vetter von ihm, berichtete er, derjenige, der in Südamerika die vierzehn Millionen verdient hatte, «ja, verdient, was denn sonst?», dieser Vetter habe ihn nach Frankreich eingeladen, um Luft und Gedanken zu wechseln und für solange, als es ihm passen würde. Warum sollte er nicht zugreifen? Und so habe er sich auf den Weg ge­macht. Er werde voraussichtlich einige Monate in Paris bleiben.

      Darüber wunderten sich die Sciori nun doch. Ihr Herr ­Martino in Paris? Sie wussten, wie verhasst ihm jede städtische Kleidung war. Zu Hause ging er in verwaschenen Halbleinhosen, ohne Strümpfe, ein netzartiges Hemd mit Ausschnitt um seine hochgewölbte Brust gespannt und als Schutz auf seinem dunkeln Krauskopf einen ungewöhnlich reich durchlöcherten Strohhut. Und wie sollte er, der Bastler, es aushalten ohne Holz und Nägel, ohne Schlösser zum Ölen oder Flicken, ohne elektrische Anlagen zum Nachsehen, ja ohne die Ölheizung der Sciori, die nicht funktionieren wollte ohne ihn. Nur er wusste ihr so zuzusprechen, wusste an den richtigen Hebelchen zu drücken, verstand Luft und Öl so zu mischen, dass diese höchst weibliche Einrichtung ihre Pflicht tat. Vor allem, wie sollte Herr Martino leben ohne sein Boggiaspiel? Er spielte mit Leidenschaft, er spielte gut, aber nicht so gut wie der Schulmeister, nicht ganz so gut, denn der Schulmeister blieb kühl und seine Hand zitterte nie vor Zorn. Darum gewann er. Meist gewann der Schulmeister. Herrn Martinos Kopf wurde dann rot wie eine Tomate, er brüllte so laut, dass die Frauen, die auf der Piazza strickten, ihn hörten und sich zunickten: «Tino verliert wieder.» Aber doch, sooft der Schulmeister Zeit hatte, spielte Herr Martino mit ihm, um ihn zu besiegen. Wie sollte er ohne diesen täglichen Ansporn auskommen? Das schien den Sciori unmöglich. Sie machten ein großes Fragezeichen zu der geplanten Reise ihres Herrn Martino, doch wussten sie aus Erfahrung mit den Leuten aus dem Tal: Fragen nützte nichts. Man bekam keine richtige Antwort. Man musste warten. Einmal würde man schon verstehen, später, manchmal erst viel später … Und so wünschten sie dem Guten Glück auf die Reise.

      In diesem Jahre waren die Sciori zu Weihnachten in ihr Landhaus gezogen, um den Festen in der Stadt auszuweichen. Es lag viel Schnee, als sie durch das Tal hinauffuhren, und in jedem Dorf standen viele Männer auf der verschneiten Straße, schauten und plauderten, zeigten sich mit ihren Bräuten oder trugen ihre kleinen Kinder herum. So ist es immer: auf Weihnachten kommen die Männer und Söhne nach Hause, die im Frühjahr in die großen Städte gezogen sind, um dort als Gipser und Maler ihr Geld zu verdienen. Im Tal findet ein Mann kein Auskommen. Das bisschen Heu und die wenigen, kleinen Kartoffeln genügen gerade, um die Ziegen, die Frauen und Kinder durchzubringen. Es sind geschickte Leute unter den Männern, die viel Geld verdienen. Das Geld – und die neueste Herrenmode – bringen sie an Weihnachten ins Tal. Es geht dann hoch her. Jeden Abend wird in den vielen kleinen Wirtschaften des Tales bis spät debattiert, über Politik und über Gemeinde- und Familienangelegenheiten. Oft gibt es gegen Mitternacht Zank und es heißt, wenn die Männer im Tal seien, so weinen die Frauen. Wie dem auch sei, es kommen dann im Herbst immer viele Kinder zur Welt. Manche davon sterben bald wieder. Man sieht in jener Zeit etwa eine einsame Frau mit einem kleinen Paket, das mit einer weißen Gardine verhangen ist, den Weg zur Kirche hinabgehen. Es ist eine Mutter oder Verwandte, die das tote Kind zuerst dem Pfarrer bringt, der in der offenen Kirchentüre wartend steht, unter lautem und be­sonders vergnügtem Geläute der Glocken, denn Gott freut sich über den Tod eines unschuldigen Kindleins, das direkt zu ihm in den Himmel kommt. Dann geleitet sie der Pfarrer auf den Friedhof, wo das kleine Paket von Maurilio, dem Küster, in eine winzige Grube verlocht wird. Nach kurzer Zeit weiß die Mutter nicht mehr genau wo.

      Aber nicht alle Kinder kommen im Herbst zur Welt. An einem dieser Weihnachtstage, während die Sciora ihren Kaffee trank, den die Marta nach alter Gewohnheit ihr am Morgen ans Bett brachte, begann diese ohne Umschweife: «Sciora, das Kind der Berta ist heute Nacht geboren worden. Der Doktor war dabei. Es ist ein Junge.»

      Die Sciora war sich nicht sogleich im Klaren, wer die Berta sei. «Nun, die Berta vom oberen Haus, diese … nun eben … diese … Sie wissen schon, Sciora, die liederliche, die Berta, die mit den Männern am Abend spricht.»

      Die Sciora meinte, die Berta werde wohl nicht nur mit den Männern gesprochen haben, aber sonst fand sie alles in Ordnung. Doch die Marta ließ nicht locker, die Sciora musste verstehen, was das heißt: Ein Mädchen bekommt ein Kind, dazu ein solches Mädchen. Das war durchaus nicht in Ordnung. Das musste jede rechte Frau aufregen. «Und das arme Kind, das keinen Vater hat», fuhr die Marta eifrig und in jammerndem Tone fort, «und die armen Eltern, die solche Schande an ihrer Tochter erfahren müssen!» Sie legte ihr Gesicht in Falten, richtete sich auf und meinte: «Nun, warum haben sie nicht besser auf die Tochter aufgepasst! Der Herr Pfarrer hat erst kürzlich allen zu Herzen geredet, sie sollen doch lieber heiraten, es freue weder Gott noch den Herrn Jesus, noch genau besehen, sonst jemanden, wenn immer wieder so viele uneheliche Kinder zur Welt kämen.» «Wie ist es eigentlich mit der Muttergottes gewesen?», fragte da die Sciora und schaute die Marta lächelnd an. Diese errötete ein wenig, lächelte wieder und sagte, wie sie es gelernt hatte: «Das ist ein Mysterium.» Nun schien es aber mit der liederlichen Berta auch ein Mysteri­um zu werden.

      Als der Segretario, der das Neugeborene einzuschreiben hatte, ordnungsgemäß fragte, wer der Vater sei, ließ das Mädchen antworten, der Vater sei der verstorbene Sindaco. Der Segretario war bestürzt. Er beschloss, mit dem Einschreiben zu warten. Das Dorf war bestürzt. Niemand hatte das vorausgesehen. Da schien sich etwas Ungehöriges begeben zu wollen. Wie würde man die Wahrheit erfahren können? Den armen Sindaco konnte man nicht mehr fragen, ob das Mädchen lüge. Er schwieg. Umso lauter beschuldigte es die Familie des Verstorbenen, vor allem seine Brüder, das sei Verleumdung schlimmster Art. Niemals hätte ihr Bruder … niemals, und überhaupt, wie verworfen und zu allem fähig müsse man sein, um einem armen Toten einen solchen Tort anzutun, wo er sich doch nicht mehr verteidigen könne … doch sie, die Brüder und der Vater, sie würden die Ehre ihres lieben Verstorbenen schon zu schützen wissen, mit allen Mitteln und bis zum Schluss. Ob das Mädchen denn überhaupt irgendeinen Be­weis für eine Behauptung aufbringen könne?

      Das Mädchen lachte, es brauche da keinen Beweis, das Kind sei Beweis genug. Es sei vom Sindaco und sie verlange die üblichen Gelder. Sie habe den Arzt holen lassen müssen, das Kind wolle er­nährt und erzogen sein, kurz, sie verlange Geld. Und dieses Geld habe der Vater und Erbe des Sindaco zu bezahlen.

      Es entbrannte Streit, denn durch nichts wäre der Alte zu be­wegen gewesen, freiwillig etwas von dem geerbten Geld herauszugeben. Und über dem Streit teilte sich das ganze Dorf in zwei Parteien. Die einen glaubten, es sei, wie das Mädchen behaupte, der Sindaco der Vater des Knaben,

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