Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher страница 5
Auf die Fußballbegeisterung folgte diejenige für das Theater. Der Besuch einer Räuber-Aufführung habe sie ausgelöst: »Sie wirkte so, daß ich nicht begriff, wieso Menschen, Erwachsene, die genug Taschengeld haben und keine Schulaufgaben, nicht jeden Abend im Theater verbringen … Eine ziemliche Verwirrung verursachte das erste Stück, wo ich Leute in unseren alltäglichen Kleidern auf der Bühne sah; das hieß ja nicht mehr und nicht weniger, als daß man auch heutzutage Stücke schreiben könnte.«25
Dieser Text, geschrieben 1948, mag eine Selbststilisierung des inzwischen erfolgreichen Bühnenautors sein. Aber er hatte, wenn die Erinnerung stimmt, ein reales Fundament. Frisch berichtete, er habe in der Pubertät einige (verlorengegangene) Stücke geschrieben. Unter anderem eine Ehekomödie – »Ich hatte noch nie ein Mädchen geküßt!« –, eine »Farce über die Eroberung des Mondes« und ein Stück mit dem Titel Stahl. »Es spielte, nur soviel weiß ich noch, auf dem nächtlichen Dach eines Hochhauses, am Ende raucht es aus allen Fenstern der Großstadt, ein gelblicher Rauch wie aus Retorten, und der Held, nobel wie er war, hatte keinen anderen Ausweg als den Sprung in die Tiefe.«26
1919, mit seinem Bruder Franz Bruno. Foto Max-Frisch-Archiv.
Der sechzehnjährige Frisch schrieb das Stück auf einer »gemieteten Maschine droben im Estrich« und schickte es an Max Reinhard nach Berlin. Sieben Wochen später erhielt er einen »ausführlichen Bericht, den ich nicht begriff«, mitsamt »der Einladung, weitere Texte einzuschicken«.27 Als der Vater allerdings Wind von diesen literarischen Ambitionen bekam, mißbilligte er sie entschieden.28 Man darf diese Episode trotz der Empörung des jungen Max nicht zu schwer gewichten; welcher pubertierende Sohn fühlt sich nicht gekränkt, wenn der Vater die Bedeutung erster poetischer Ergüsse verkennt. Die Geschichte verweist jedoch auf Grundsätzliches. Im puritanisch-zwinglianischen Zürich hatte die Verachtung der Künste, insbesondere des Theaters, eine alte Tradition. Dem Ideal des strebsamen, frommen Bürgers, auf dessen Erfolg Gottes Segen ruhte, widersprach das anrüchige Tun der Komödianten. Bürgertugend und Theater schlossen sich aus. Frisch brauchte Jahrzehnte, um sich aus dieser Prägung zu lösen. Zerrissen zwischen Künstlerehrgeiz und Bürgersehnsucht und immer wieder heimgesucht von der Verzweiflung, sowohl als Künstler wie als Bürger zu versagen, fand er erst als reifer Mann ein selbstsicheres Verhältnis zu beiden Polen seiner Existenz. Wir werden seine Biographie bis in die Mitte der fünfziger Jahre immer wieder unter diesem Aspekt zu betrachten haben.
Drei Jahre vor dieser Stahl-Episode war Max ins kantonale Realgymnasium am Zürichberg eingetreten. Hier lernte er Werner Coninx, seinen wichtigsten Jugendfreund, kennen. Coninx war der Sohn einer sehr wohlhabenden Bürgerfamilie, die u.a. einen großen Verlag und die Zeitung Tages-Anzeiger besitzt. Werner und Max wanderten gemeinsam durchs Engadin, spielten Tennis, fuhren Ski – beides Upperclass-Sportarten zu jener Zeit. Werner öffnete Max auch geistige Welten; er kannte sich in Musik, Philosophie und Literatur aus. Doch nicht die künstlerische und geistige Avantgarde faszinierte ihn, Links-Hegelianer, Phänomenologen, Neutöner oder Surrealisten standen ihm fern. Coninx befaßte sich mit den Geistern, die im kultivierten Bürgertum damals bereits anerkannt waren, mit Spengler, Nietzsche, Schopenhauer, Bruckner, Mozart, Bach, mit Caspar David Friedrich, Corot, später mit Picasso und mit Hans Carossa, Gide, Strindberg.
Jahrzehnte später erlosch die Freundschaft ohne eigentlichen Bruch. Frischs Literatur verstörte und verärgerte Coninx. In Montauk erinnerte sich Frisch des Jugendfreunds über volle vierzehn Seiten: »Seine breiten Schultern; er ist sehr groß … In der Klasse war er immer der erste; kein Streber, er war intelligenter als die andern … Nach der Schule begleitete ich ihn nach Hause … Seine Eltern waren sehr reich. Das schien ihm aber unwichtig, kein Grund für Selbstbewußtsein … alles Oberflächliche war ihm zuwider. Er war ein philosophisches Temperament; ich staunte, was sein Hirn alles denken kann. Auch war er sehr musikalisch, was ich nicht bin … Ich schrieb für Zeitungen und war stolz, wenn die kleinen Sachen gedruckt wurden; mein Geltungsdrang, glaube ich, war das erste, was ihn an mir enttäuschte. Ich mußte Geld verdienen, das verstand er, doch was ich schrieb, das war ihm peinlich … Auch sein Urteil über bildende Kunst war ungewöhnlich, nicht bloß angelesen, es entsprang seiner eigenen Sensibilität. Ich träumte von W. Wenn ich ihn besuchte, kam das Dienstmädchen an die Türe, ließ mich höflich in der Halle warten, bis sie oben gefragt hatte, und dann hatte ich natürlich den Eindruck, daß ich störe, auch wenn W. mich nicht abwies … Er war ein herzlicher Freund, mein einziger Freund damals … Es gab nur eine Sache, für die ich nie dankbar war: seine Anzüge, die für mich eine Nummer zu groß waren. Meine Mutter konnte zwar die Ärmel kürzen, die Hosen auch, trotzdem paßten sie mir nicht. Ich trug sie halt, um W. nicht zu kränken … Es verdroß mich nicht, wenn er plötzlich mitten in einem Gespräch, seine Jacke wiedererkannte und feststellte, daß die englischen Stoffe sich eben tadellos halten … Ich litt nicht unter seiner Überlegenheit, solange wir unter vier Augen waren; sie war selbstverständlich … Was ohne W. aus mir geworden wäre, das ist schwer zu sagen. Vielleicht hätte ich mir mehr zugetraut, vermutlich zuviel … Ich begriff, daß W. meine Bücher nicht lesen konnte. Er hatte ein anderes Maß, dem ich nicht gewachsen sein konnte.«29 Abschließend urteilte Frisch: »Ich meine, daß die Freundschaft mit W. für mich ein fundamentales Unheil gewesen ist und daß W. nichts dafür kann. Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn«.30
Frisch schrieb diese Erinnerung als fünfundsechzigjähriger Mann, der inzwischen weltberühmt und ebenfalls wohlhabend geworden war. Dennoch spricht aus dem Text, durch alle ironischen Brechungen hindurch, noch immer die Faszination des sozialen Aufsteigers. Nicht nur die Anzüge, der ganze gesellschaftliche Habitus waren dem Kleinbürgersproß um Nummern zu groß. Die Perspektive – steil von unten nach oben – besagt mehr als die einzelne Aussage.31 Sie ist, bis weit in die vierziger Jahre hinein, Frischs Optik auf die bürgerliche Gesellschaft.
Ein einziger Satz verweist auf die politische Gesinnung des Freundes: »Er war gegen Hitler, aber auch skeptisch gegenüber einer Demokratie, wo jede Stimme gleich viel wiege.«32 Der Satz ist diskret, aber vielsagend, liest man ihn vor dem Hintergrund der antidemokratischen Bewegung, welche die bürgerlich-intellektuelle Schweiz der zwanziger und dreißiger Jahre erfaßt hatte. Einer der Großen in Sachen Elitedenken, Korporationsgeist und Wiederbelebung des Ancien régime, der Freiburger Publizist und Militärberater Gonzague de Reynold, formulierte bereits 1905 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dem späteren Hausblatt Frischs, das politische Credo der bürgerlichen Rechten, zu der auch Coninx zählte: »Die Demokratie hat ihre Versprechen nicht gehalten, ja sie konnte sie nicht halten. Sie ist in ihrem Ursprung selber, in der Französischen Revolution, ein Mißwuchs. Die künstliche Gleichheit, im Widerspruch zu den Erfordernissen und Regeln des Lebens selbst, mußte notwendigerweise zur Tyrannei der Zahl, zur Herrschaft der Mittelmäßigen, zur brutalen Zentralisation und zum Etatismus führen. Da die Demokratie aus Prinzip keine Superiorität anerkennen kann, ist sie allein dadurch die Gegnerin jeder Elite: sowohl der intellektuellen wie der moralischen Elite …«33
Student und Dichter
1930 beendete Frisch das Gymnasium mit der Matura. »Es ist der Ehrgeiz von Vater und Mutter, daß wir Akademiker werden, Studium nach eigener Wahl. So werde ich Student der Germanistik.«34 Im Wintersemester 1931/32 immatrikulierte er sich an der Universität Zürich. Er fand dort bemerkenswerte Lehrer. Unter anderem hörte er Psychologie bei Carl Gustav Jung, Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, deutsche Literatur bei Emil Ermatinger und Robert Faesi. Jung war der nationalsozialistischen Ideologie und dem antidemokratischen Elitedenken der Zeit in manchen Überzeugungen nicht abgeneigt, Wölfflin,