Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher

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Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher

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seine Selbstzweifel von der Stirn: »Schluß mit der Selbstzerlegung, die endlos und kernlos ist; wie eine Zwiebelschälerei.«50 Zugleich aber weiß Frisch auch, daß körperliche Arbeit letztlich nur »innerliche Öde« erzeugt und wahres und geistvolles Leben nur in der Stadt möglich sei. Aber geistvolles Leben ist selbstquälerisch, also schwärmt der Stadtmensch von der Ursprungsgewalt des ungebrochenen Landmenschen: »Etwas Unerwartetes in einer Welt der überfeinerten, bis zur Erdfremdheit vergeistelten, unvitalen Stadtseele: Dieser Bauerndichter, der ein Riese ist aus Frische und Erdhaftigkeit. Etwas Ursprungsgewaltiges, vor dem wir Hofmannsthalschen Claudios klein und blaß sind«, urteilt Frisch über Richard Billingers Pfeil im Wappen.51 Dichten sei »das Rauschen in der Tiefe« hörbar machen, die »Gegenstände selber zum Sprechen bringen«. Journalismus dagegen sei bloß eine »Photographie«, ein »Reiz ohne Tiefgang«.52

      Man könnte seitenweise weiter zitieren, die kleine Auswahl mag genügen. Sie zeigt hinlänglich, wie erd- und heimatverbunden, konservativ und antiintellektuell der junge Dichter und Journalist in seinen Anfängen war; ein Adept seiner nicht minder konservativen Lehrer und Förderer Faesi, Staiger, Korrodi. Die Nähe zur faschistischen Literatur drängt sich auf, doch es wäre falsch, von dieser auf Frisch zu schließen. Auch die faschistische Literatur wurzelte im breiten konservativen Literaturverständnis der Zeit; sie hat die Blut- und Bodendichtung nicht erfunden, jedoch für ihre politischen Zwecke radikalisiert und instrumentalisiert.

      Identität

      Der eigentliche Schlüsseltext der frühen Zeitungsbeiträge ist ein kurzer Essay mit dem Titel: Was bin ich?53 Hier entdeckt der junge Journalist sein Ich als literarisches Thema. Er stellt die Frage, an deren Beantwortung er sich die nächsten Jahrzehnte die Zähne ausbeißen wird – in der Literatur, wie im Leben –, die Frage nach der eigenen Identität und, was damit zusammenhängt, nach einem sinnvollen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft: Was bin ich, und wie muß ich leben, um mich selbst zu gewinnen? Diese Frage drängte Frisch zum Schreiben, und schreibend versuchte er sie zu lösen. Er befand sich dabei in bester Gesellschaft: Die Identitätsfrage ist ein Zentralproblem der westlichen Literatur unseres Jahrhunderts.

      Vordergründig literarisierte Frisch in Was bin ich? seine aktuelle Lebenssituation: Ein Student, dessen Vater gestorben ist, bricht sein Studium ab und sucht einen Broterwerb als Journalist. Der Tod hat sein soziales Sicherungsnetz zerrissen und ihn vor die Existenzfrage gestellt. Doch es geht nicht bloß um die materielle Existenz. »Geld ist zwar notwendig zum Leben, aber noch viel notwendiger ist es, zu wissen, was man denn ist und wozu man eigentlich taugt.«54 Zwischen »lächerlicher Überheblichkeit« und »lächerlichen Minderwertigkeiten« hin und her gerissen, sucht der junge Mann nach Orientierung und Selbstbestimmung. »Zum Ersäufen bin ich innerlich zu schön«, zum bescheidenen Mittelmaß jedoch zu schade. »Größenwahn und Minderwertigkeitsängste sind immer noch interessanter als die Erkenntnis: ich bin einer vom Millionendurchschnitt.« Der Exstudent möchte Dichter werden, Romane schreiben, Novellen, Komödien – ein selbstbestimmtes, schöpferisches Leben führen. Das ist die eine Seite. Doch wovon leben? »Ich muß Brot verdienen; aber ich will mich nicht lebendig begraben lassen. Da kenne ich Leute, die leben nur, um Geld zu verdienen; und das Geld verdienen sie, um leben zu können; und leben tun sie wiederum, um Geld zu verdienen. Ein Witz. Ich will aus meinem Dasein nicht einen Witz machen. Beruf soll nicht Zwangsjacke sein, scheint mir, sondern Lebensinhalt.«55 Ein sicheres Gespür sagt dem jungen Mann, daß entfremdete Lohnarbeit und ein kleinbürgerliches Angestelltendasein kein gangbarer Weg für ihn sind. Ein Künstlerleben macht Sinn, doch es stellt ihn an den Rand der Gesellschaft und macht brotlos.56 Eine Familie wäre da nicht zu gründen, denn »eine Frau … kostet Geld … eine Wohnung kostet Geld … Kinderchen kosten Geld«.57 Und wer weiß, ob das Talent für ein Künstlerleben ausreicht.58

      Mit Was bin ich? fand Frisch nicht nur ein Lebensthema, sondern auch zwei typische Stilmerkmale: Die Auseinandersetzung in der Frageform – er wird sie später zu den legendären Fragebogen weiterentwickeln. Und die Schreiblist, in einer Ich-Form zu schreiben – »Mein Name ist Frisch. Max Frisch stud. phil. I«59 –, die sich autobiographisch ausnimmt und doch zugleich Kunstform ist. In den späten Texten Montauk und Schweiz ohne Armee? Ein Palaver wird er dieses Verwirrspiel auf die Spitze treiben.60

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      1933. Foto Hans Staub/Max-Frisch-Archiv/Stiftung für die Photographie Zürich.

      Angestellten-Dasein versus Künstler-Leben, Normalmaß versus Außerordentlichkeit, soziale Integration versus Selbstverwirklichung, Sinn versus Lohn, das war das Grunddilemma des jungen Frisch, im Leben wie in der Literatur. Es war zugleich die Klammer, die Literatur und Leben aufs engste zusammenschloß. Noch sah Frisch dieses Dilemma nicht historisch, noch fragte er nicht: Wie müßte eine menschliche Gesellschaft beschaffen sein, damit in ihr ein sinnerfülltes und zugleich sozial integriertes Leben möglich ist – diese Frage stellt erst der späte Frisch –, vorerst beschäftigten ihn nur die Auswirkungen des vorgefundenen Dilemmas auf seine individuelle Subjektivität. Doch beide Fragen, die historisch-politische wie individuell-psychologische, sind Kehrseiten derselben Münze. Dieser Zusammenhang wird wichtig, um zu begreifen, wie in späteren Jahren die zwei angeblich so verschiedenen Max Frischs zusammenhängen: der Dichter der Subjektivität und der politische Essayist und Redner.

      Künstler versus Bürger. Jahrzehntelang bemühte sich Frisch um Überwindung dieser Spaltung. Er spielte, sozusagen probehandelnd, verschiedene Möglichkeiten literarisch durch und versuchte sie anschließend oft auch zu leben. Die Lösung, die er 1932 fand und die er mit großer Hartnäckigkeit und am Rande des Existenzminimums auch praktizierte, hieß: freier Journalismus. So hoffte er, Brot und Kunst, Sinn und Lohn produktiv zu koordinieren.

      Die Balkanreise

      Im Frühjahr 1933 fanden in Prag Eishockeyweltmeisterschaften statt. Frisch erklärte der NZZ-Redaktion, daß er ohnehin fahre, ob er berichten könne. Er konnte. »Ich war stolz darauf, wie ich das gemanagt hatte.«61 Die Reise sollte vierzehn Tage dauern, es wurden acht Monate daraus. Von Prag fuhr Frisch nach Budapest, Belgrad, Sarajewo, ans Meer bei Dubrovnik, über Zagreb nach Istanbul, dann nach Athen, von dort zu Fuß nach Korinth und Delphi, schließlich zurück über Dubrovnik, Bari und Rom. Ende Oktober war er wieder in Zürich.62 Reise und Unterhalt verdiente er sich, mehr schlecht als recht, mit Reiseberichten für die NZZ.

      In Budapest versuchte er seinen Wintermantel zu verkaufen und machte dabei die für einen zwinglianisch erzogenen Schweizer aufregende Erfahrung, daß die Ungarn trotz aller Armut nicht verbittern, sondern »gelassen, gemütvoll lächeln: das Leben ist ein Ferienaufenthalt, wo die Figuren vor dem Letzten die Achseln zucken«.63 Aus Sarajewo liefert er ein erstes Beispiel seines später selbstkritisch konstatierten »male chauvinism« (Montauk): Die Verschleierung mache die Frauen erst richtig reizvoll, »heikle Halsausschnitte und schamlose Kurzröcke« bestehlen den Mann, »der immer ein Träumer ist, um alles Erahnen«.64 Aus Serbien berichtete er über Klosterbesuche und zeigte dabei eine frühe Meisterschaft in poetischer Naturbeschreibung: »Überm Wasser kommt ein Hauch, welcher den Seespiegel fleckenweise verkräuselt und mit den Silberpappeln spielt. In langen Uferalleen beginnt jenes Flimmern, wenn die Blätter ihre helle Unterseite aufwenden, und im Schilfblaß platschen schwarze Büffel …«65 Leider erfahren wir wenig über die Klöster selbst, so sehr schieben sich des Autors Empfindungen vor das Objekt. Zur Balkanreise gehörte auch eine Fußwanderung von Athen nach Korinth und Delphi. Sie muß eindrücklich gewesen sein. In verschiedenen Artikeln und im Homo faber berichtete er davon. Dem jungen Wanderer gefielen die Ruinen und die Gastfreundschaft der einfachen Leute, »die zufrieden sind«.66 Wir Westeuropäer, sinnierte er, »können die Handlungen eines Mitmenschen niemals hinnehmen, ohne nach einem heimlichen Zweck zu suchen, weil wir den Glauben verloren haben, daß

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