Die Stimme des Atems. Ernst Halter
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→Führer →Krieg →Kriegsschuld →Liedgut →Schlagen
Aas
Sonntag. Wir spielen mit Cousins und Cousinen, die zu Besuch sind, vielleicht auch mit den Kindern W. aus dem Nachbarhaus, wo es immer nach abgestandenem Sauerkraut riecht. Auf dem Grasstück zwischen dem Garten von Dr. Ginella und dem Hof des Bauern Aeschbach hat jemand einen Gegenstand versteckt. Nahe dem Zaun wuchert hohes Unkraut, Gebüsch dunkelt. Ich bin am Suchen und habe plötzlich unter den Händen, die das Gras teilen, so nah, dass ich fast hineingegrapscht hätte, eine rötlichgräuliche, fliessende Fleischmasse, eine aufgeplatzte Ratte. Das Gedärm quillt schlabbrig hervor, und darin ringeln sich mästende Würmer über- und durcheinander. Ich zucke zurück, Grausen verschlägt mir die Stimme, der Magen dreht sich, doch kann ich mich nicht übergeben. Ich renne weg, weit weg von diesem Kothaufen des Bösen, durchs Gartentor in den umzäunten, geschützten Bereich des Doktorhauses.
→Erste Heimlichkeit →Der Geruch →Tödlein
Alarmsirene und Schlachthaus
Sie gleicht einem Storchennest und tanzt auf knickigem Stelzbein zuoberst auf dem Giebel des Schlachthauses, des grössten und höchsten Baus in der Ringmauer der Unterstadt. Sie zieht den Krieg auf sich, alle Zerstörung und Angst. Wenn sie zu heulen beginnt, an- und abschwellend, streut sie das Böse in die vier Winde und lässt das Entsetzen über mir zusammenschlagen. Auf dem dünnen Stahlrohr drehe sich, erklärt man mir, nur ein Metallteller, der von einem zweiten Teller bedeckt werde. Doch da ich die Sirene ebenso fürchte wie hasse, wage ich es nicht, sie genau anzusehen. Sie steht und droht abseits. Abgestellt im Augenwinkel, rächt sie sich fürs vorsätzliche Vorbeischauen, indem sie uns nächtens in den Keller des Doktorhauses an der Grabenstrasse scheucht, denn Bahnhof und Fabriken wären das Hauptziel eines Bombenangriffs, und wir wohnen mittendrin.
Zofinger Tagblatt, 24. November 1943
Verheerende Wirkungen des Luftangriffs auf Berlin. Die R.A.F. warf 2400 Tonnen Bomben ab
Insgesamt hielten sich die Geschwader 35 Minuten über Berlin auf. Etwa 20 Minunten nach dem ersten Bombenabwurf kam es zu einer gewaltigen Explosion, deren Wirkung bis zu 6500 Meter Höhe deutlich zu spüren war. Hunderte von Piloten bestätigten in der Vernehmung am Mittwoch, dass sie bisher in keinem Unternehmen eine derartig schwere Detonation mit Luftdruckwirkung in diesen Höhen wahrgenommen haben. Nach der Meinung der Artillerieleitung ist entweder ein Hauptmunitionsdepot oder ein riesiges Gaswerk in die Luft geflogen. «Die von uns allen beobachtete Explosion war unvorstellbar gewaltig. Plötzlich schoss ein glänzend weisses Licht auf, und darnach ging der Horizont langsam in eine rotglühende Farbe über.»
Auch das Schlachthaus behalte ich im Augenwinkel. Ich meide die Fegergasse, und muss ich doch durch, laufe ich den gegenüberliegenden Gehsteig entlang, vor die Füsse blickend oder einfach auf die Türen oder in die halbblinden Fenster der schmalbrüstigen Häuser. Sie sind klein, ärmlich, verlottert, denn im Dunstkreis des Schlachthauses können behäbige Häuser nicht gedeihen. Ein Bogentor gäbe Einblick. Ist die blutige Arbeit getan, am Nachmittag, steht es meist offen; Blut, Urin und Kot wird von Böden, Wänden, Winden, Haken und Messern abgespritzt, frische Luft wird eingelassen, denn Blut stinkt, und der Tod brüllt und quietscht mit Menschenstimme. Die Schauerlichkeit der verbotenen Innereien lockt, die das offene Tor auf obszöne Weise verheisst. Aber ich lasse mich nicht ertappen, lange Jahre nicht.
→Abwässer →Gassen →Hochkamine und Sirenen →Krieg
Tödlein
Die Mutter hat meinen Bruder und mich zu Bett gebracht. Als ein Geräusch mich weckt, herrscht bei heruntergelassenen Rolläden noch die Dämmerung eines langen Frühlingsabends. Ich drehe den Kopf nach dem Raspeln oder Kichern am Betthaupt und sehe den Tod, ein grauweissliches Skelett, so gross wie ein Teddybär. Rittlings hockt er auf der obern Bettlade, klappert mit Knochen und Gebiss und grinst, erfüllt von schauerlicher Lustigkeit, auf mich herab, im Begriff, mir an die Gurgel zu springen und mich fortzuschleppen. Vor Grauen stockt mir der Atem; ich tauche unter Laken und Bettdecke, einziger Fluchtweg, wenn auch sinnlos, da es für den Tod ein leichtes sein wird, mir nachzukriechen und mich nach kurzem Kampf in luftloser Finsternis zu erwürgen. Nass von Angstschweiss warte ich den Angriff ab. In dieser Lage muss ich wieder eingeschlafen sein und mich an die Luft zurückgestrampelt haben.
(Dieser Pavor des Sechsjährigen – wir wohnten bereits im Haus über der Stadt – holte den Tod zum ersten Mal aus Wort und Bild in die mich bedrohende Wirklichkeit. Er borgte seine Gestalt aus Alfred Rethels «Totentanz»; ich kannte das Holzschnittwerk über die revolutionären Barrikadenkämpfe des Jahres 1848 gut, es lag im verglasten Bücherschrank. Nun hatte ich den Tod «lebendig» gesehen und war ihm nur entronnen, weil sein Gekicher mich zu früh geweckt hatte. Monatelang blieb die Angst, im Schlaf von ihm überfallen zu werden. Der Begriff «Tödlein» nistete sich in meinem Wortschatz ein.)
→Ameisen – Todesspiel →Ersticken →Krieg →Löwentraum
Abwässer
Umweltschutz – kein Mensch hatte davon gehört. Unser aller Kot und Abfall floss stellenweise offen dahin und stach in die Nase.
Die chemischen wie die Farb und Düngerwerke hinter den Bahngleisen wurden im Süden und Westen von einer Mauer umschlossen, die sich über einer Böschung hinzog, ein kleiner Kanal an ihrem Fuss wurde vom Stadtbach gespeist. Das Wasser quoll aus einem Düker etliche Meter über dem Niveau der Bahnhofsunterführung, welche die Quartiere Henzmann und Brühl mit der Stadt verbindet. Wenn die Sonne es durchleuchtete, unterschied man Menschenkot, Papier, Blutgerinnsel und andern organischen Abfall, der träge kreiselnd dahintrieb. Hundert Schritt weiter bog der Kanal um die Ecke der Umfassungsmauer nach Norden ab, und nun überblickte man eine Anzahl dünner Stahlrohre, die in regelmässigen Abständen die Böschung am Fuss der Mauer durchstiessen und ihre Abwässer in den Kanal