Die Stimme des Atems. Ernst Halter

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Die Stimme des Atems - Ernst Halter

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braunem Wollstoff mit den engen in den Kniekehlen scheuernden Hosenbeinen seien genauso schön wie kurze dunkelblaue Manchesterhosen, vor allem aber wärmer und gesünder. Was bedeutet dem Kind Gesundheit? Es bringt sie mit aus dem Mutterleib. Was soll der Hinweis auf Blase und Nieren? Jeder Blick an seinem Körper hinunter bestätigt, dass die Hosen abscheulich aussehen.

      Verlorne Liebesmüh, ihm lederne Hosenträger beliebt zu machen, weil ein eng geschnallter Gürtel auf den Magen drücke und Bauchweh verursache. Es sieht sich im Toilettenspiegel der Mutter und weiss mit sechs Jahren bereits: Ich sehe aus wie Herr Holderegger. Kaum sind die Eltern ausser Sicht, knüpft es die Hosenträger los, versteckt sie und sucht im Nachttisch des Bruders nach einem Gürtel.

      Es gibt auch ästhetisch neutrale Kleidungsstücke. Ausgelatschte braune Halbschuhe: Wer im Quartier trägt schönere? Einige trampeln gar in Holzböden herum. Schuhe werden für das Kind gekauft, es hat sie abgetreten und liebgewonnen; ungern trennt es sich von ihnen. Dazu trägt es kurze Socken. Seine dunkelblaue, von der Mutter gestrickte Wollkappe empfindet es als Verschönerung seiner Person. Zwei Pompons baumeln ihm an Kordeln gleich grossen Pflaumen ums Gesicht.

      Am glücklichsten ist das Kind im langärmligen, aus feiner weisser Wolle gestrickten Pullover mit Umlegekragen. Dünner als der braune oder der staubblaue Winterpulli aus Kratzwolle, steht er für Sonntag und Frühling und umschliesst eng die Handgelenke; der Kragen fasst den Hals schön rund ein, die Glasknöpfe sind Diamanten. Das Kind gefällt und liebt sich dann aus tiefstem einverstandenem Herzen. An Frühlingssonntagen trägt es zudem weisse gestrickte Strümpfe, die seine Würde nicht antasten. Es hakt sie in die Ösen am Gschtältli und prüft die Knöpfe des Hosenladens. Nun schlüpft es in die dunkelblauen Manchesterhosen und tritt sich so gegenüber, wie es sich sehen will: vom Himmel gestiegen und der Mutter und dem Vater ein Wohlgefallen. Es lacht, singt, entwischt in den Garten, kommt nach einer Weile wieder ins Haus gelaufen und erzählt. Die Eltern streicheln ihm übers Haar, nehmen es an der Hand und hören ihm geduldig zu.

      →DiminutivverlustErwachen mit drei JahrenFreiheit des KindesDer JüngsteSchuhe kaufenZügelmann Holderegger, Dienstkollege

      Dampfdreirad

      Als Jüngster trage ich mehr aus als an, übernehme mehr, als ich gekauft bekomme; die Anspruchslosigkeit in der Garderobe ist mir geblieben. Das Velööli, ein Dreirad, nehme ich in Gebrauch, als es bereits bös vernutzt ist. Ich fahre es bis auf den Schrottplatz, übe vormittagelang auf der Veranda. Die Hartgummireifen fallen aus den Felgen. Sie werden nicht ersetzt, es gibt während des Krieges kaum derartigen Luxus, auch knirschen und kratzen die Räder fortan metallisch auf dem Beton, und das tönt mir wie die Eisenbahn. Das Dreirad wird zur Lokomotive meines Zugs. Die Glocke wird umfunktioniert: Ich schraube den metallenen Deckel los, klemme trockenen Riesenporling vom kränkelnden Edelkirschbaum ins Läutwerk und drehe den Deckel erneut fest. Mit der Lupe des Vaters entfache ich das Feuer. Schwämme glimmen mit graugelblichem Rauch und beizendem Schmorgeruch und veraschen nur langsam.

      Der Zug ist unter Dampf; ich lege mich bäuchlings auf den hölzernen Sitz, ergreife die Pedale mit den Händen und verkehre knirschend und gierend zwischen dem Westbahnhof vor der Küchentür und der Station am Ostende der Südveranda. Die Glocke tönt erstickt und dumpf, etwas ist ihr in der Kehle steckengeblieben – kein Wunder, wir kommen aus einer rauchbraunen Ferne. Passagiere mit Überseekoffern steigen aus, auf den Perrons wartet ungeduldig die Menge der Urlaubs- und Geschäftsreisenden. Stolze Destinationen schwirren mir im Kopf: Ohne Halt bis St. Petersburg und Paris! An andern Tagen steigen nur Bauern, Arbeiter und Handlungsreisende zu, der Zug hält in Schafhausen und Walkringen. In Oberdiessbach wird er aufs Abstellgleis geschoben. Was würden Grosseltern, Tanten und Onkel von mir denken, wenn ich an ihnen vorüberdonnerte. Ich verbeuge mich höflich.

      →Eiffelturm und LaternenfischEisenbahnFahrt in die NachtKontinenteWaldbahn

      Glasmurmel Achill

      Der Riese unter den Murmeln heisst Ajax, eine Glaskugel von der Grösse eines Holzapfels, in ihrem Innern schlingen sich zwei gelbgrüne Bänder von Pol zu Pol um eine rote Ader herum. Ajax ist matt, plump, ich mag ihn nicht. Neben weiteren, bedeutend kleineren Glasmurmeln – Diomedes, Menelaos, Memnon – gibt es Klicker aus glasiertem Ton, anspruchslos braun, mattblau oder versilbert, Thersites und seine Gesellen.

      Mein Liebling ist Achill. Er trägt Spiegelglanz und ist grösser als der Durchschnitt der andern Glaskrieger. Wolkenähnliche, regelmässig von Pol zu Pol durcheinandergeschlungene Äderungen in Preussischblau, Mehlblau, Seiden- und Pulverblau füllen sein Inneres. Immer wieder taucht der Blick in seine Tiefe. Der Bläuling schliesst Dämmerungen in sich, der Stille Ozean öffnet seine Tiefen, Quallen filtern das Licht. Achill lehrt mich das Wunder der Farbe, ihre Unergründlichkeit, ihre Schönheit ohne Zweck und Grund. Die mystische Kugel ist vielleicht das vollkommenste Ding meiner Kindheit gewesen.

      →Eiffelturm und LaternenfischMutter und MythenOzeanerforschung

      Schüsse

      Sommer im Garten, wir spielen, ich stürme mit einem langen wippenden Grasschwanz, den ich hinten in die kurzen Hosen gestopft habe, über eine Trockenmauer, wiehernd, ein Streitross. Da explodiert der Frieden; nicht weit vom Haus knattern mehrere Schüsse. Der Schreck wirft mich beinahe um: Der Krieg ist ausgebrochen! Schreiend renne ich zur Mutter und stecke den Kopf in ihren Schoss.

      Es braucht etliche Erklärungen und Ääli, bis ich glaube, dass dies nicht Krieg, sondern die Schiessanlage hinter der Reithalle ist, von der ich noch nichts gewusst habe. Mit Mühe lerne ich in den folgenden Monaten, den Fluchtimpuls zu unterdrücken, wenn samstags die Schiesserei wieder losgeht. Seither lässt mich jedes Schrillen und Knallen zusammenzucken, und die Leidenschaft vieler Männer für die Kugel kann ich nicht teilen. Ich habe nie Schiesszeug für Grosse besessen.

      →Alarmsirene und SchlachthausTödlein

      Krieg

      Vater, Mutter, Besucher, Tante Rosa, Tante Sängerin, die Nachbarn, die Waschfrau, der Metzger, die Ladeninhaberin, alle reden vom Krieg. Seit ich mich erinnern kann, ist Krieg, offenbar der Normalzustand der Welt, obwohl jedermann darob unglücklich ist, denn dieser Krieg ist der scheusslichste und grausamste aller Kriege. Kein Tag ohne Hiobsbotschaften und Alarmsirenen, obwohl der Krieg einen Bogen um uns herum macht. Und zuweilen versteckte Zufriedenheit: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

      Die Stuttgarter Innenstadt ausgebrannt,

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