Die Stimme des Atems. Ernst Halter

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Die Stimme des Atems - Ernst Halter

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Zahlen werden genannt, Hunderttausende, Millionen, vielleicht Tote oder Ermordete oder Kriegsgefangene. Wo ist das Bombardement heut früh um zwei niedergegangen? Die Basler fahren ins Berner Oberland. Wie, unser Schaffhausen ist angegriffen worden? Wir sind doch neutral! Schweres Bombardement über Mailand, die Eltern sehen einander an, offenbar bedeutet ihnen Mailand viel. Le Havre und Caen ein Trümmerhaufen. Die Deutschen sind zum Siegen zurückgekehrt. Ardennenoffensive. Doch die Amerikaner werden dafür sorgen … Zauberwort «Amerikaner». In Warschau steht kein Stein mehr auf dem andern, Würzburg, das Grab am Main, Berlin eine Geisterstadt, die Russen in Schlesien und Ostpreussen, Schweinfurt ausradiert, Frankfurt Schutt und Asche, Nürnberg eine riesige Fackel, Friedrichshafen voll getroffen, Bombenhölle Dresden, Menschenfackeln, Werwolf wütet. Später wieder: Friedrichshafen; der Name lädt sich auf mit den Vorstellungen von Finsternis und Feuerringen des Kriegs. Für immer.

      Es ist Vormittag, die Mutter im Haus oder Garten beschäftigt, Geschwister und Vater in der Schule. Ich schütte den Inhalt meines Tecto-Holzbaukastens auf den Esstisch und spiele Krieg. Ich bin die Deutschen und rüste auf, niedrige Hallen, Hochkamine, Bahnhöfe. Die Stadt heisst Essen. Unter einer Glocke von süsslichem Duft, Laugengestank, Kohlenrauch, ätzenden Stickstoffdünsten dehnen sich Fabriken, Häuser, Kamine bis zum Horizont. Gegen die Tischmitte sind die chemischen Werke angesiedelt, gleich daneben werden in riesigen finstern Hallen Bomben produziert, weiter Panzer, Flugzeuge, Kanonen. Die Deutschen sind bereit loszuschlagen.

      Ich atme tief durch. Unter diesigem Spätherbsthimmel stehen kahl die Wälder herein. Und jetzt bin ich die Amerikaner und komme den Deutschen zuvor. Ich höre meine Bomber im Anflug; das Geräusch geht mir durch die Kehle, nicht anders als in der Nacht, wenn die Geschwader von Süden her die verdunkelte Stadt überfliegen, ein tiefes Dröhnen und Schüttern, dass die Scheiben am Geschirrschrank klirren. Zielgebiet erreicht. Bomben ausklinken! Von allen Seiten schlagen Volltreffer in die Stadt Essen, das Haus zittert schwach. Nach jedem Abwurf begutachte ich die Zerstörung. Noch steht die Giftgasküche. Auch in der Panzerfabrik wird weitergearbeitet. Mir sind die Bomben ausgegangen. Ich suche nach Blindgängern unter den Trümmern und bestücke die Fliegenden Festungen neu. Wjuuuwumm! Quamm! Buurrumm! Alles kaputt. Ein wirres, von Bombenkratern aufgepflügtes Ruinenfeld. Ich höre die Bomber nicht mehr. Die Luft ist seltsam rein, still, hell, als ob die Sonne durchbrechen müsste.

      Wann immer ich heute ein chemisches Werk sehe – Stahlkamine, Gasbehälter, Druckzylinder, Nitrieranlagen, Rohrorgeln, Tanklager und puffende Ventile –, bombardiere ich es in meiner Vorstellung, bis die Flammen tausend Meter in die Nacht emporlodern.

      →Alarmsirene und SchlachthausAmeisen – TodesspielErstickenHochkamine und Sirenen

      Zofinger Tagblatt, 6. März 1943

      Luftangriffe auf Essen

      Die deutschen Rüstungszentren im Ruhrgebiet wurden in der Nacht zum Samstag bombardiert. Hauptziel war Essen. Aus London wird darüber bekannt: Die britischen Flugzeuge führten unter ihrer schweren Last von Hochexplosiv- und Brandbomben 150 2000-Kilo-Bomben mit sich. Der Angriff dauerte 40 Minuten. Nach 20 Minuten erfolgte eine ausserordentlich heftige Explosion, die riesige Flammen in die Luft warf und die Strassen der Stadt hell erleuchtete. Ein zweites Flammenmeer breitete sich im Zentrum der Stadt aus. Grössere und kleinere Brände wurden in allen Teilen von Essen und seiner näheren Umgebung beobachtet. (…) An diesem Angriff waren u. a. auch polnische Staffeln beteiligt.

      Schlagen

      Sind die Männer im Aktivdienst, ist die Geburtenrate hoch. Durch alle Strassen der Stadt schieben Mütter ihre Kinderwagen, lassen diese vor den Läden stehen, und bald beginnen die Babies zu schreien. Mir zerrt das Gewimmer an den Nerven. Nicht dass ich die Kleinen beruhigen möchte, o nein: Plötzlich zerreisst etwas in mir, ich kann das Geschrei keine Sekunde länger aushalten, und wie ein Schauder überläuft mich die Lust, auf die Säuglinge einzuschlagen, bis sie still sind. Dann erwache ich, und ein Grauen, die Angst vor dem Mörder in mir, packt mich.

      Jahre später stosse ich auf den Leibspruch des Schlächters von Mauthausen: «Der ist kein Mann,/der nicht schlagen kann./Drum folg dem Gebot (?):/Schlag tot, schlag tot!» In uns wartet ein Ungeheuer auf seine Stunde. Sie schlägt, wenn körperliches Leiden andrer uns ausgeliefert ist.

      →AasAmeisen – TodesspielErste Heimlichkeit

      Zofinger Tagblatt, 26. Januar 1946

      [Zeugenaussage am Nürnberger Prozess]

      Das Schreckenslager von Mauthausen

      Der Zeuge Maurice Lampe, der gegenwärtige Generalsekretär der Föderation politischer Gefangener, schilderte (…), wie 47 amerikanische und englische Offiziere im August 1944 ermordet wurden: Die gefangenen Offiziere wurden gezwungen, in einem Steinbruch mit schweren Steinblöcken auf den Schultern eine grob aus dem Fels gehauene Treppe von 180 hohen, unebenen Stufen emporzu­steigen. Man befahl ihnen, den Todesmarsch barfuss anzutreten und zu «laufen», nicht zu «gehen». Oben angelangt, mussten sie ihre Last abwerfen, um so rasch wie möglich die Stufen wieder hinabzurennen. Am oberen Ende der Treppe standen Gestapobeamte und wälzten die schweren Steine auf die treppabwärts laufenden Gefangenen. Die Überlebenden wurden unten aufs neue beladen, und zwar mit noch schwereren Steinen, worauf sich das «Spiel» wiederholte, bis es keine Überlebenden mehr gab. Wer mit zerquetschten Armen oder Beinen zusammenbrach, blieb liegen, und die Steinblöcke rollten weiter auf ihn herab, bis auch der letzte kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

      Ameisen – Todesspiel

      Der Tod ist unanständig, man muss ihn verheimlichen, obwohl er von oben nach unten ausgeteilt wird und alle dies wissen. Zuoberst sitzt Gott, der stirbt nie, weil er Menschen, Tiere, Pflanzen tötet; die Grossen töten und fressen die Kleinen, diese die Winzlinge. Je kleiner die Lebewesen, desto zahlreicher, desto weniger zählend die Tode. Niemand fragt nach dem Lebensfünkchen der Blattlaus. Wenn die Menschen einander umbringen, explodieren Granaten und Bomben und brennen die Städte, im Frieden bimmeln die Glocken; stirbt eine Katze, stecken nur wir Kinder ein Astkreuz ins Gras. Müssen Ameisen dran glauben, schrillt kein Pieps von den offenen, glattgesäuberten Heerstrassen, die, von Erdbollwerk gesäumt, viele Meter weit durchs Rasengeviert der Gartenterrasse laufen.

      Ich bin gross, und sie können sich gegen mich nicht wehren. Meine Eltern zertreten bei einem einzigen Rundgang im Garten mehr Ameisen, als ich, neben einer Ameisenstrasse kauernd, töte, aber meine Schuld ist grösser. Es muss verschiedene Tode geben. Der Tod, den ich austeile, schreit lautlos zum Himmel, schwärzt mich dort an, der Tod unterm Schuhabsatz der Mutter verklagt sie nicht. Sie weiss nichts davon. Und wer trägt die Schuld am Tod der Ameise im Krater des Ameisenbären? Fritzi und ich schubsen mit einem Strohhalm Ameisen hinunter. Der Ameisenbär trifft sie mit seinem Staubstrahl, saugt sie in seinen Trichter, und am nächsten Morgen liegen leere Chitinhüllen am Trichterrand. Warum sind wir schlecht, wenn doch Gott den Ameisenbären und die Ameise, den Tod und unsere Lust daran geschaffen hat?

      In einer Schublade von Vaters mehrstöckigem Eichenholzpult liegt die Lupe. Wenn ich sie ins Sonnenlicht halte, bündeln sich im Brennpunkt

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