Wenn die Nacht in Stücke fällt. Daniel de Roulet
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Das Tagesprogramm war für Sie organisiert worden. Erst am Abend, auf der Terrasse einer Brasserie in Montparnasse, haben Sie endlich Ihr Skizzenheft hervornehmen können, um zu zeichnen, was Ihnen der Mühe wert schien in Paris: die Pariserinnen, ihre erstaunlichen Hüte, ihre elegante Erscheinung, zielstrebig in ihren Stiefeln. Sie waren allein. Berthe wartete im Hotel in der Nähe auf Sie. Der Kellner hat Ihnen eine Decke angeboten, die Sie abgelehnt haben. Sie beobachteten die Handgriffe eines Straßenlaternenanzünders. Mit seiner Stange glich er einem Landsknecht mit seiner Hellebarde. Sind Sie Maler?, hat eine Frau gefragt, die auf dem Trottoir vorbeiging.
Die Krümmung ihrer Nase ist Ihnen aufgefallen. Sie war ein Musterexemplar der Stadt, weiße Bluse, schwarzes Gilet, die Haltung ihres Kopfes hatte etwas Amerikanisches. Sie haben ihr nicht geantwortet. Vielleicht wegen Ihres Akzents, der Sie als Ausländer verraten hätte. Oder aber weil Sie diese indiskreten Frauen von schlechtem Lebenswandel, die sich auf den Pariser Trottoirs herumtrieben, verabscheuten. Sie hat nicht auf einer Antwort bestanden, sich etwas weiter weg hingesetzt, Ihnen ihr Profil zugekehrt.
Ohne zu überlegen, haben Sie in Ihrem Heft geblättert und dann in wenigen Strichen die Skizze der Unbekannten beigefügt, als hätten Sie ihre Frage beantworten wollen: Ja, Madame, ich bin Maler.
Sie hat den Kopf mit einem halben Lächeln Ihnen zugewandt und Ihnen dadurch erlaubt, weiterzuzeichnen, aber Sie mochten nur richtige Posen, und die Fremde hatte sich gerade bewegt. Auf den Terrassen in Montparnasse gab es wenige Frauen ohne Begleitung. Im Allgemeinen warteten sie auf jemanden, der sich verspätet hatte, oder suchten Klienten. Einige boten sich als Modell an, was meist mit einem ausschweifenden Leben verbunden war. Berthe erwartete Sie, Sie haben dem Kellner ein Zeichen gegeben, dass sie zahlen wollten. In diesem Moment hat sich die Dame, die Sie gezeichnet hatten, Ihrem Tisch genähert und Ihnen mit einem Lächeln ihre Visitenkarte entgegengestreckt: Es würde mich nicht stören, Ihnen Modell zu stehen.
Erneut sind Sie sprachlos geblieben, haben die Karte mürrisch mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken in die Tasche gesteckt. Sie war schon gegangen.
Am nächsten Tag im Louvre vor einem Gemälde von Ingres, als Sie Ihr Heft geöffnet haben, um ein Detail zu kopieren, ist die Visitenkarte herausgefallen. Nehmen wir an, es handelte sich um Valentine Godé-Darel mit einer Adresse im sechsten Arrondissement. Das gelang Ihnen nicht oft, mit drei Strichen jemanden, der vorbeiging, zu zeichnen. Sie haben an das große unvollendete Bild in Ihrem Atelier in Genf gedacht, das Sie Blick in die Unendlichkeit nannten. Es fehlte dort noch eine weibliche Person. Und da, vor dem Gemälde von Ingres, haben Sie die Intuition gehabt, diese Lücke könnte durch die Pariserin, die Sie am Abend zuvor in Montparnasse gesehen hatten, gefüllt werden.
Zurück im Hotel, während Berthe schon die Koffer für den nächsten Tag packte, haben Sie ihr vorgeschlagen, einige Tage in Paris zu bleiben. Sie war darüber erstaunt, erfreut, nochmals Ihr Geld für Kinkerlitzchen in den Läden der großen Boulevards ausgeben zu können.
Sie haben einen Laufburschen geschickt, ein Atelier in der Grande Chaumière zu reservieren, dann zu der Dame, deren Adresse Sie hatten – Rue Saint-Benoît –, um ihr eine Sitzung vorzuschlagen. Je schneller desto besser.
Am Tag darauf hat dann die erste richtige Begegnung stattgefunden. Nach zwei Stunden, in denen Sie sie gezeichnet haben, als säße sie immer noch auf der Terrasse von Montparnasse, haben Sie die Dame zu einem Glas Wein eingeladen und ihr vorgeschlagen, am nächsten Tag nochmals zu kommen. Das war ihr unmöglich. Sie haben nicht zu fragen gewagt, woher der melancholische Schleier komme, den Sie in ihrem Blick gesehen hatten. Sie lächelte ihnen zu, Sie sagten Plattitüden. Später haben Sie erfahren, dass sie eben eine schmerzhafte Scheidung hinter sich hatte.
Monsieur Hodler, diese Frau hat Sie eingeschüchtert. Sie haben über sich gesprochen und abschließend gesagt: Entschuldigen Sie, Madame Darel, ich rede und rede … Ausgerechnet Sie, von dem alle sagten, Sie seien wortkarg, unwirsch, «unfähig, einen Satz zu beenden», Sie haben Ihre Projekte und zuletzt das erwähnte Bild in Genf geschildert. Sie hat nur einige Bemerkungen gemacht, aus denen klar geworden ist, dass sie über Ihre Kunst und die Theorie der Malerei mehr wusste als Sie. Sie kannte die Werke der meisten Ihrer Zeitgenossen, sodass Sie gedacht haben, sie male ebenfalls, wagten aber nicht, sie danach zu fragen.
Über die Frauen haben Sie festgefahrene Meinungen gehabt. Die einen waren schöne Modelle, mit denen Sie die Sitzungen im Atelier gerne in schnelle Umarmungen verlängerten, die Liste der Namen wäre lang. Die anderen Blaustrümpfe, verklemmte, gebildete Spießbürgerinnen, aber unattraktiv. Zum ersten Mal begegneten Sie einer Frau, die Sie gleichzeitig wegen ihrer Schönheit «einer byzantinischen Kaiserin» auf einem Mosaik in Ravenna und wegen ihrer Intelligenz faszinierte. Valentine hat Ihre Vorstellung der weiblichen Welt durcheinandergebracht.
Es hat nur eine Skizze in Montparnasse und zwei Sitzungen mit ihr als Modell in der Grande Chaumière gebraucht, um zu verstehen, wie Ihnen geschah. Deshalb Ihr Vorschlag: Madame, würden Sie nicht einige Tage nach Genf kommen? Antwort: Monsieur Hodler, ich glaube nicht, die Frau zu sein, die Sie suchen, aber wenn ich Ihnen damit eine Freude bereiten kann …
Später hat sie behauptet, Sie seien leicht verwirrt gewesen, bevor Sie entgegneten: Oh doch. Sie haben so getan, als hätten Sie von ihr keine Antwort bekommen, als Sie sie verließen, als wüssten Sie nicht, ob Sie sie je wiedersehen würden. Bis zu dem Tag, an dem Sie von ihr ein Briefchen erhalten haben.
Carl Vogt, der Meister
Die folgende Anekdote würde man noch in hundert Jahren in meiner Familie weitererzählen. Ein gewisser Carl Vogt, der erste Rektor der Universität Genf, überzeugter Materialist, bekämpfte die Bedeutung der theologischen Fakultät. Er hatte öffentlich dessen Dekan angeherrscht: «Da die Theologie behauptet, die Basis von allem zu sein, wird es genügen, dass sie im Keller unserer Universität Platz nimmt.»
Dieser Carl Vogt, ein ehemaliger Freund von Bakunin und Karl Marx, ist verrufen. Als politischer Agitator in Deutschland flüchtet er das erste Mal nach Neuenburg, wird Assistent von Louis Agassiz. 1848 kehrt er nach Deutschland zurück, er wird in die Nationalversammlung in Frankfurt gewählt. Ein zweites Mal zwingt ihn die Repression, in die Schweiz zu flüchten. 1852, mit dreiundfünfzig Jahren, wird er zum Professor für Geologie ernannt, dann zum Professor für vergleichende Anatomie. 1863 erscheint sein Buch, ein Lob des Darwinismus, Vorlesungen über den Menschen. Schweizer geworden, wird er zum Großrat, dann zum Nationalrat gewählt. Im Jahr 1872 wollen Sie, Monsieur Hodler, die Natur studieren. Sie kommen nach Genf, um die Vorlesungen dieses Carl Vogt zu besuchen, dessen Furor von der ganzen helvetischen Jugend bewundert wird. Später werden Sie zu Ihrem Freund Loosli sagen: «Der Unterricht von Carl Vogt hat mir mehr künstlerisches Wissen gebracht und mich mehr bereichert als alles, was ich über Kunst gelesen habe und je lesen werde. Sein Unterricht war so mitreißend, dass ich mich gefragt habe, ob ich nicht die Malerei aufgeben und mich ganz den Naturwissenschaften widmen solle, für die er mich begeistert hatte. Aber er selber hat mir abgeraten, in diese Richtung zu gehen, da ich nicht studiert hatte und mittellos war. Ich bleibe ihm dankbar, dass er mich gelehrt hat, die Natur und ihre Gesetze zu verstehen. Er hat mir gezeigt, dass alles, was in der Natur geschieht, nur die unablässige Anwendung von unveränderlichen Gesetzen ist.»
Carl Vogt erlaubt Ihnen, bei den anatomischen Seziersitzungen dabei zu sein. Sie dürfen dort zeichnen, was Sie vor Augen haben: aufgeschnittene Muskeln, leichenblasse Gesichter, Hände. Später werden Sie zu diesem Thema sagen, dass der menschliche Körper Ihnen wie eine Maschine vorkomme. Um ihn zu verstehen, müsse man ihn im Stillstand studieren. Carl Vogt bewundert Ihre Zeichnungen, für die er Sie lobt.
Vielleicht