Wenn die Nacht in Stücke fällt. Daniel de Roulet

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Wenn die Nacht in Stücke fällt - Daniel de Roulet

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bei. Er hätte Sie Courbet vorstellen können, der ebenfalls in die Schweiz geflüchtet war und sich oft auf der Durchreise in Genf aufhielt. Das wäre eine schöne Begeg­nung geworden. Sie werden den Weg zum Realismus allein gehen müssen.

      Die in den Anatomiestunden gezeichneten leblosen Körper sind nicht wie Maschi­nen, die man wieder in Gang setzen kann. Außer man ist Maler. Denn sie beginnen zu leben, weil man beim Zeichnen eines lebendigen Körpers jedes Mal von dem, was man hier gelernt hat, profitieren kann. Der Materialismus von Vogt, sein Darwinis­mus macht Ihnen Mut. Sie haben schon zu viele Tote um sich gehabt, um sich nicht Fragen über die Unsterblichkeit zu stellen. Von jetzt an glauben Sie: Es sind die Ge­setze der Natur, die unsterblich sind, die Theologie soll im Keller bleiben.

      An jenem Abend, als Sie die Büste von Valentine in Ihr Atelier unter dem Dach an der Rue du Rhône gebracht haben, kommen Sie im Gespräch mit dem jungen Müh­lestein darauf zurück. Ganz aufgeregt nehmen Sie Michelangelo als Beispiel, von dem Sie behaupten, seine Gemälde und Skulpturen seien ihm gelungen, weil er jeden Mus­kel, jede Sehne des menschlichen Körpers studiert habe: «Wenn du dieses Wis­sen weglässt, bricht alles zusammen, was die visuelle Kunst für die Ewigkeit geschaf­fen hat.»

      Das Modell

      Ihr zukünftiges Modell hat, aus Paris in Genf eingetroffen, ein Hotel an der Rive droite bezogen. Am Tag darauf hat sie an der Bucht eine Brücke überquert und das Weiß von zwei Schwänen bewundert, die aus Sibirien importiert worden waren. Punkt neun Uhr hat sie sich am vereinbarten Ort, Rue du Rhône 29, eingefunden.

      Ausnahmsweise hatten Sie Ordnung gemacht, warteten ungeduldig auf sie. Es kam nicht jeden Tag vor, dass eine so attraktive Frau Ihnen vorschlug, sie zu malen. In Ihrem Antwortbrief hatten Sie einen Tagestarif angegeben, jedoch nicht vorgesehen, ihr die Reise zu bezahlen. Sie hatten gedacht, sie habe Freunde in Genf. Später hat sie Ihnen anvertraut, nur eine große Neugier und der Wunsch nach einem Ta­pe­ten­wechsel hätten sie dazu bewegt.

      Sie haben den Morgen damit verbracht, ihr Ge­sicht auswendig zu lernen: eine per­fekte Symmetrie, ein Mund, der einfach nur schön war, hohe, aber weiche Wangen­knochen, hübsche Ohren. Sie hatten sie frontal platziert, mit seitlichem Licht, das ihre winzigen Fältchen zwischen den Augen und über den Lippen bloßlegte. Sie wuss­ten noch nicht, dass diese Partien, wenn Sie die Etappen ihres Leidensweges ma­len würden, Tag für Tag mehr einfallen würden. Sie hat keine Mühe gehabt, sich drei Stunden lang nicht zu bewegen. Plötzlich hat sie gefragt: Darf ich sehen, wie Sie mich angelegt haben?

      Sie ist aufgestanden, um ihr Gesicht zu betrachten, das Sie zu einem perfekten Oval, ähnlich jenem einer Prinzessin von Ravenna, gemacht hatten. Sie hat keinen Kommentar abgegeben, aber Sie mit einer Geste von höchster Kühnheit auf die Wan­ge geküsst. Sie haben lange Ihre Pinsel gereinigt, ohne etwas zu sagen. Sie lächelte Ihnen zu, Sie waren ihr ausgeliefert. Auf Berndeutsch hätten Sie antworten können, aber auf Französisch brachten Sie kein Wort heraus. Schließlich haben Sie wie Ihr Pneumologe gefragt: Wann sieht man sich wieder?

      Mehrere Tage hat sich die Szene wiederholt. Sie kam um neun Uhr, nahm bis ge­gen Mittag ihre Pose ein, ohne sich zu bewegen, erhob sich dann unvermittelt, um einen Kuss auf Ihre linke Wange zu drücken. Sie haben daraus geschlossen, dass dies eine unverbindliche Pariser Gewohnheit war. Nachher luden Sie sie in die nahe Bras­serie Universelle mit Blick auf die Rhone ein. Sie war fröhlich, heiter gestimmt, wuss­te zu jedem Ihrer Pariser Kollegen eine Anek­do­te zu erzählen. Sie waren von ihrem Wissen fasziniert. Manchmal ging ein Schatten über ihre Augen, zweifellos ihrem Ex-Mann zuzuschreiben.

      Eines Tages haben Sie beschlossen, einen Schritt weiterzugehen. Das fast abge­schlossene Porträt muss­te etwas ruhen. Sie haben sie zum Mittagessen in eine noble­re Brasserie eingeladen, ins Le Commerce, Place du Molard. Madame, haben Sie ge­sagt, während Sie Ihr Glas hoben, ich möchte Sie gerne nackt malen. Ihre Antwort: Ich habe gewusst, Monsieur Hodler, dass das kommen würde, und wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann …

      Ich stelle mir vor, dass Sie sich in diesem Mo­ment, als Sie realisiert haben, wie sehr Ihnen die Pariserin am Herzen lag, vielleicht am Hals gekratzt haben, oder Sie sind errötet oder haben die Zehen in den So­cken zusammengekrallt. Beim Abendessen hat Berthe, Ihre Frau, Sie misstrauisch angeschaut: Was beschäftigt meinen kleinen Fer­dinand? Und Sie: Nichts, meine Liebe. Sie haben beide die Suppe schweigend ausge­löffelt.

      Am nächsten Morgen haben Sie Ihr Modell gebeten, sich nackt wie zum Schlafen auf dem Bauch auszustrecken. Auf dem mit einem blauen Tuch bedeckten Podest befanden sich die Kurven ihres Rückens, ihres Kreuzes, ihrer Hüften auf der Höhe Ihrer Au­gen. Eine konvexe Linie verbunden mit einer konkaven, geht wieder in eine Konvexe über. Sie haben sie gemalt wie den Horizont des Juras über dem Genfersee. Ein schläfriger Berg, doppelt von Blau umgeben, vom Himmel und vom See. Sie ha­ben nicht nur einen jungen perfekten Körper entdeckt, sondern auch eine Landschaft. Sie hat posiert, ohne sich zu bewegen, drei Stunden, ohne ein Wort zu sagen. Gegen Mittag haben Sie von ihr einen Wangenkuss erwartet. Sie aber war eingeschlafen. Selb­st das metallische Ge­räusch beim Zuschnappen der Pinselschachtel hat sie nicht geweckt. Sie sind zu ihr getreten, wie man sich einem Kind nähert, um das blaue Tuch wegzunehmen, Sie hat sich Ihnen mit einem langen Gähnen zugewandt: Wie spät ist es? Und Sie: Zeit für den Kuss.

      Von diesem Moment an haben Sie sich geduzt. Wie im Spiel hat sie Sie weiterhin «Monsieur Hod­laire» genannt, so wie sie Baudelaire sagte, während man bei Ihnen zu Hause «Hodleure» aussprach.

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