Literaturwissenschaften in der Krise. Группа авторов

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Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

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(Lüscher 2015: 96) Darüber hinaus wird diese Lesart der Krise als Sensationsnarrativ durch Preisings Beschreibung der medialen Reaktionen auf die Krise getragen, die sich einer für Krisensituationen typischen Sprache bedienen: »Allerorts begegnete ich aufgeregten Gesichtern. Sondermeldungen verlesenden Nachrichtensprechern, nachlässig gepuderten Kommentatoren, schwitzenden Experten. Von einem drohenden Flächenbrand, einer Epidemie war die Rede.« (Lüscher 2015: 97) Die verwendete Metaphorik (Flächenbrand / Epidemie) unterstreicht die unvorhersehbaren Auswirkungen und wahrscheinliche Ausweitung der Katastrophe und ist so dazu angetan, zusätzliche Ängste im Zuschauer zu schüren. Diese sprachliche Hysterie wird in Preisings Erzählung direkt als solche entlarvt: »Beides, wie du weißt, ist dann doch nur in weit geringerem Maße eingetroffen, als an diesem Morgen in den Fernsehstudios und auf den Sonderseiten der Weltpresse heraufbeschworen wurde.« (Lüscher 2015: 97)

      Was wäre aber nun der richtige Umgang mit der Krise? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Panik setzt die Novelle sich in diesem Zusammenhang auch mit möglichen Reaktionen verschiedener Schlüsselfiguren auseinander, die stellvertretend für eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen stehen. Die textbasierten Geisteswissenschaften – in diesem Szenario vertreten durch die Englischlehrerin Pippa Greyling – präsentiert sie dabei als entrückt und von den Ereignissen einigermaßen unbeeindruckt: »Pippa nahm die schlechte Nachricht resigniert zur Kenntnis und bemerkte, dass sie das habe kommen sehen. Sie war sich nicht sicher, ob sich deswegen die Welt auf eine bedeutsame Art und Weise ändern würde, ob deswegen Dinge wie zum Beispiel das Rezitieren eines Gedichtes wieder an Bedeutung gewinnen würden […]« (Lüscher 2015: 93). Der Kommentar zur Gedichtrezitation, obschon im Kontext der Novelle auf ihren misslungenen Vortrag auf der Hochzeit ihres Sohnes bezogen, unterstreicht dennoch einen aktuellen Kritikpunkt an der Distanzierung der textbasierten Geisteswissenschaften vom aktuellen Weltgeschehen, suchen sie ihre Forschungsthemen doch häufig gerade nicht in der Gegenwart, sondern in eta­blierten historischen Kanons. Auch die Soziologie, vertreten durch Pippas Mann, kommt in diesem Kontext nicht besser weg. Seine Vorstellungen von einem gesellschaftlichen »Neuanfang, der ohne Männer wie ihn, die ein Leben lang auf der richtigen Seite gestanden hatten und ihre besten Jahre damit verbraucht hatten, darüber nachzudenken, wie die Gesellschaft eigentlich einzurichten sei, kaum zu bewerkstelligen war« (Lüscher 2015: 105), werden zugleich durch die selbsteingestandene »Lächerlichkeit« seiner spontanen Affäre mit der Trauzeugin seines Sohnes untergraben (Lüscher 2015: 105). Die Geistes- und Sozialwissenschaften, so wie sie im Text präsentiert werden, haben keine Handhabe gegen die Barbarei der Finanzwirtschaft, mehr noch, sie haben kein Interesse an ihr. Lüschers Novelle reflektiert somit, jenseits der eindeutigen Parallele von neoliberalen Finanzmärkten und Barbarei, auch eine aktuelle Kritik an der Position der Geisteswissenschaften in der Krise. Auch sie stellen, so argumentiert der Text, »die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7).

      Lüschers Novelle ist ein Zitat von Franz Borkenau vorangestellt, das Barbarei als »schöpferische[n] Prozess« und die Krise damit als Chance interpretiert – auch wenn dieser »Barbarei« und »Jahrhunderte spiritueller und materieller Verarmung und […] schreckliche Leiden« vorangehen könnten (Borkenau in Lüscher 2017). Das Zitat spiegelt sich auch in einer umstrittenen Äußerung Slavoj Žižeks, in der er sich positiv zur Wahl Donald Trumps äußerte, die notwendig sei, um die »inertia of the status quo« (Žižek 2016) aufzubrechen. Dieser accelerationistisch geprägten Liebäugelei mit den »reinigenden« (in ihrer selektiven Bevorzugung einer finanziell und körperlich überlebensfähigen Bevölkerungsgruppe extrem problematischen) Kräften der Apokalypse steht auf der anderen Seite eine kollektive Apathie im Angesicht der Krise gegenüber, die im globalen Norden vor allem der wahrgenommenen Komplexität geschuldet zu sein scheint. Dabei würde es doch zur ureigenen Rolle der textbasierten Geisteswissenschaften gehören, Interpretationsansätze zu finden und Strategien im Umgang mit komplexen Szenarien zu entwickeln. Dazu bedarf es allerdings neuer Ansätze jenseits verängstigter Kopf-in-den-Sand Politik und apokalyptischer Begeisterung für die reinigende Wirkung von Katastrophen. Doch wie könnten solche Ansätze aussehen und befinden die Geisteswissenschaften sich nicht aktuell selbst in der Krise?

      Geisteswissenschaften in der Krise

      Die Krise der Geisteswissenschaften ist sicher kein neues Thema (Martus 2017). Es ist also nicht sonderlich überraschend, dass ein im Februar 2017 veröffentlichter Artikel von Spiegel-Autor Martin Doerry die aktuelle Relevanz der Germanistik als Studienfach in Frage stellt. Die Germanistik, so Doerry, sei gesellschaftlich zum Schweigen verurteilt, denn »[w]er aus der akademischen Nische heraustritt, muss um sein Ansehen fürchten.« (Doerry 2017) Die Germanist*innen Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke – Letzteren zitiert Doerry mit den Worten, »[d]as Fach habe ›keinen Biss‹ und ›keine Identität‹ mehr« (Doerry 2017) – kritisierten Doerrys Aussagen in der FAZ. Die Germanistik vermittle, so die AutorInnen, »ein spezifisches Wissen in Fragen der Form«, das »den Blick für Fiktionalisierungen und ihre strategischen Einsätze öffnen [könne], auf die wir nicht nur in der Kunst, sondern vielleicht verstärkt auch in der politischen Wirklichkeit treffen.« (Drügh, Komfort-Hein und Koschorke 2017) Und auch andere Vertreter des Fachs engagierten sich für die Relevanz der germanistischen Literaturwissenschaft (zum Beispiel Steffen Martus, ebenfalls in der FAZ, und Klaus Kastberger in der ZEIT). Die Kritik an Doerrys Artikel ist jedoch mehrheitlich darauf ausgerichtet, die Relevanz und gesellschaftliche Nützlichkeit des Fachs Germanistik zu verteidigen und übersieht damit, wie Doerrys Artikel selbst, die wesentlich weitreichendere Frage nach der Position der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten. Hierzu müssen in der Tat nicht nur die Germanisten, wie von Doerry gefordert, »Stellung beziehen« (Doerry 2017), gerade weil sie einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit diesen Krisen leisten können.

      Die mangelnde gesellschaftliche Wirkung geisteswissenschaftlicher Forschung ist jedoch nicht allein auf das zu geringe Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften oder die gesamtgesellschaftliche Irrelevanz ihrer Forschungsgegenstände zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um ein systematisches, kulturelles Problem, das Achille Mbembe im Rahmen eines Kommentars zu einem aktuellen Forschungsprogramm der südafrikanischen Regierung folgendermaßen beschreibt: »The assumption is that coupled with science and technology, market capitalism will sort out most of our problems. Not once does it mention the humanities.« (Mbembe 2012a: 8) Mbembe führt dies vor allem auf die Dominanz neoliberaler Wirtschaftsmodelle zurück, die auch die Gewichtung natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung an Universitäten beeinflusst. Dabei bezieht er sich zwar vor allem auf Südafrika; dass es sich aber nicht um ein genuin südafrikanisches, sondern ein globales Problem handelt, wird vor allem beim Blick in die USA und nach Großbritannien deutlich, wo neoliberale Wirtschaftsüberlegungen noch mehr als im deutschsprachigen Raum die Struktur der universitären Landschaft verändert haben. Gerade hier, im industrialisierten, kapitalistischen Norden liegt ein großer Teil des Problems, wie Philipp Blom argumentiert:

      Die reichen demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reaktionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft. Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachtklubs, Umweltgifte, ausbleichende Korallenriffe, massenhaftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Islamisierung, Bürgerkrieg. Zukunft sollte vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollen nur, dass die Gegenwart nie endet. (Blom 2017: 16)

      Gerade deshalb kann der krisengeplagte globale Süden, in dem die Menschen auf kreative Eigenlösungen angewiesen sind, einen besonderen Modellcharakter für die Lösung dieser Probleme einnehmen, wie auch Mbembe argumentiert. Jenseits euro-amerikanischer Theoriemodelle und altbekannter Narrative könnten kreative Fragestellungen eine Schlüsselrolle in der Neubewertung der Geisteswissenschaften (und Universitäten insgesamt) jenseits ihrer neoliberal-kapitalistischen Nützlichkeit einnehmen. Dies kann und muss im Anthropozän auch eine Neubewertung der Rolle des Menschen (im Englischen durch das »Human« im Begriff »Humanities« repräsentiert) und seiner Auswirkungen

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