Bildung und Glück. Micha Brumlik
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Das Thema der Tugenden, der persönlichen Eigenschaften zumal von Politikern, hat in den letzten Jahren besonders in Deutschland eine überraschende Aktualität gewonnen. Der eine hat kurz nach seinem Amtsantritt sein politisches Amt als Finanzminister fluchtartig aufgegeben, der andere gibt die Rolle des „elder statesman“: Erinnert sich noch jemand an die bittere Auseinandersetzung zwischen Oskar Lafontaine und dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt in den frühen achtziger Jahren, als dieser – schon damals besorgt um den „Standort Deutschland“ – Disziplin, Fleiß und Ausdauer forderte? Der Chef der saarländischen SPD hielt dem Kanzler damals vor, lediglich „Sekundärtugenden“ gefordert zu haben, mit denen man ebenso gut ein Konzentrationslager leiten könne. Schmidt, als ehemaliger Wehrmachtsoffizier verständlicherweise tief getroffen, reagierte beleidigt. Dabei hatte Lafontaine, der bei den Jesuiten in die Schule gegangen ist, ganz recht. Die Tradition der abendländischen Tugendlehre bezieht bezüglich der Unterschiede von Primär- und Sekundärtugenden keine andere Position. Unter den „Kardinaltugenden“, so meinte etwa Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert, sei die vornehmste die Klugheit, die Gerechtigkeit die zweite, die Tapferkeit die dritte, Zucht und Maß aber die vierte.18 „Klugheit“ bedeutet bei Thomas nicht die Fähigkeit zum vorsichtigen Abwägen, sondern die Fähigkeit zum Erkennen der Wahrheit.
Aber sogar wenn Lafontaine gegen Schmidt recht gehabt hätte – was spricht in einer weitgehend von Traditionsschwund, Pluralismus und Multikulturalismus bestimmten Gesellschaft dafür, den alten abendländischen und zopfig gewordenen Tugenddiskurs wieder aufzunehmen? Sollte Helmut Kohls vor zwanzig Jahren pathetisch verkündete „geistig-moralische Wende“, die glücklicherweise eine Wortblase blieb, vor derlei Begriffen nicht ebenso warnen wie die letztlich konservativen Appelle der Kommunitaristen, die zur Lösung aller Gegenwartsprobleme immer nur das „Ehrenamt“ anzubieten haben?19 Über Tugenden und ihre Theorie zu reden ist schon allein deshalb sinnvoll, weil sie nach Lage der Dinge das einzige Programm darstellen, das eine materialistische Ethik zeitgemäß zu Wort kommen läßt. Man mag zu dem britischen Soziologen Anthony Giddens, der sich zum intellektuellen Sprachrohr des zwar der Labour Party angehörenden, jedoch neoliberal regierenden Premiers Tony Blair gemacht hat, stehen wie man will – wenn er in seinem Buch Jenseits von links und rechts20 gegen den allgemeinen Produktivismus eine „Politik des Glücks“ fordert, nimmt er das zentrale Problem einer Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit ins Visier. Das „Glück“ aber, der Wunsch nach einem materiell mehr oder minder sorgenfreien, von sinnvollen Zielen und befriedigenden menschlichen Beziehungen erfüllten Leben ist – jedenfalls der Tradition nach – auf das engste mit den Tugenden verbunden. So sah es Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik notierte: „Es liegt weiterhin auf der Hand, daß wir nach der menschlichen Tugend fragen. Denn wir suchten von vornherein das menschliche Gute und die menschliche Glückseligkeit.“21
Tatsächlich scheinen die Beziehungen zwischen Glück und einem erfüllten, guten Leben22 jedoch komplex, geradezu paradox zu sein: „Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des menschlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde. Desto wirklicher und wahrer ist es. Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.“23
Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erschien 1985 im französischen Exil, vier Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer. Mit dem Jahr des Mauerfalls verbindet sich nicht nur die Erinnerung an das Ende des Kalten Krieges und an die Vereinigung der getrennten deutschen Teilstaaten, sondern auch an das unwiderrufliche Ende einer verzerrten, mißbrauchten und falsch verwirklichten Utopie, des Sozialismus. Gleichwohl fällt auf, daß der Niedergang der staatsbürokratischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa keineswegs überall der Demokratie den Sieg gebracht hat und daß der Kapitalismus, auf sich allein gestellt, nicht so effizient ist, wie es vor dem Hintergrund des Staatssozialismus schien. Seit die alten Gespenster, nämlich massenhafte Arbeitslosigkeit und vermeintlich steigende gesellschaftliche Gewalt, auferstanden sind, scheint auch im siegreichen Westen der Eindruck unüberwindbar, daß die guten Zeiten endgültig vorüber sind. Von den USA bis nach Deutschland wird verkündet, daß die Generation der heute Achtzehn- bis Zwanzigjährigen den durchschnittlichen Lebensstandard ihrer Eltern nicht mehr werde halten können, daß das über Steuern verteilbare Bruttosozialprodukt abnehme, daß angesichts der globalen und nationalen Probleme Maßhalten, Solidarität, Bescheidenheit, Patriotismus und Disziplin auf der Tagesordnung stünden. Der Begriff „Individualismus“, einst hochgeschätzt, wurde wieder zu einem Slogan, der nicht nur positive Assoziationen hervorrief; der Begriff der „Gemeinschaft“, in Deutschland des Mißbrauchs wegen, den die Nationalsozialisten mit ihm getrieben haben, verpönt, gewann über die US-amerikanische Kommunitarismusdebatte neue Dignität, eine einst hedonistische Linke sucht Bindung, Verantwortung, Verbindlichkeiten und Autorität. Ging es einst um die Kritik an einem oft als repressiv empfundenen Moralismus, so beherrschen heute ethische Debatten, religiöse Sehnsüchte und – aller Rede von „Streitkultur“ zum Trotz – neue Formen der Unduldsamkeit das öffentliche Terrain.
Milan Kunderas Roman, der sich mit den politischen und erotischen Schicksalen dissidenter Intellektueller unter der tschechoslowakischen Parteidiktatur auseinandersetzt, spielt in den letzten Jahren des „Realen Sozialismus“, in der Zeit des Spätstalinismus, einer Epoche, die nicht wenige Beobachter mit einem Etikett aus der neueren Geschichte als „Ancien Régime“ bezeichnet haben. Als „Ancien Régime“ gelten in der Historiographie jene Jahrzehnte vor der Französischen Revolution, als sich die bürgerliche Gesellschaft ökonomisch zwar schon durchgesetzt hatte, das politische und kulturelle Leben aber nach wie vor von einem mehr oder minder verantwortungslosen Adel geprägt wurde, der sich objektiv überlebt hatte.
Der französische Staatsmann, Schriftsteller und Diplomat Talleyrand, der 1754 noch unter dem Ancien Régime geboren war und bis 1838, im Zeitalter der Restauration, lebte, begann seine Karriere als kirchlicher Funktionär, um sich dann der siegreichen Revolution zur Verfügung zu stellen und kirchliches Vermögen zu liquidieren. Als Royalist verdächtigt, emigrierte er 1792 in die USA, kehrte 1799 nach Frankreich zurück, um Napoleon als Außenminister zu unterstützen und ihm schließlich, weil er mit dessen Eroberungspolitik nicht einverstanden war, die Gefolgschaft aufzukündigen. Nach Napoleons endgültiger Niederlage vertrat Talleyrand Frankreich auf dem Wiener Kongreß, trat 1815 zurück, um fünfzehn Jahre später die bürgerliche Julirevolution zu unterstützen und als Botschafter in London zu wirken. Von Talleyrand, dem der Verrat – an einzelnen Personen und politischen Regimes – ebenso nahe war wie die Treue zu sich selbst und zu Frankreich, wird ein Ausspruch aus seiner letzten Lebensphase überliefert: Niemand könne die ganze Süße des Lebens erfahren haben, der nicht unter dem Ancien Régime gelebt habe. Daß die Revolutionäre diese Süße ablehnten, sich schon in ihrer äußeren Gestalt ernst und gefaßt gaben, wird an den vielfältigen Porträts deutlich, in denen streng wirkende, schwarz gekleidete Männer auftreten. Auf den klassizistischen, historischen Gemälden etwa Jacques Louis Davids präsentieren sich die Revolutionäre im Gewande altrömischer Senatoren mit strengem Faltenwurf und kühlen Farben. In Talleyrands Aussage über die Süße des Lebens, die sofort Erinnerungen an das Rokoko, an Bilder anmutig tändelnder, leichtsinniger höfischer Gesellschaften, etwa auf den Bildern Watteaus oder in den Opern Rossinis, provoziert, drückt sich in nostalgischer Weise die Erfahrung eines Epochenbruchs aus. Heute wissen wir, daß diese Süße kaum für verarmte und hungernde Bauern, unterdrückte Frauen, bettelarme Tagelöhner oder gepreßte Soldaten, kurz: für die Mehrheit der Bevölkerung galt.
Über Sinn und Unsinn, über den offensichtlich ideologischen Charakter wie kulturgeschichtlichen Erfahrungsgehalt von Talleyrands Aussage soll hier nicht gesprochen werden. Worum es hingegen gehen soll, ist die Frage, ob das Bild, das wir uns im Rückblick – sei es von der Bundesrepublik Deutschland, sei es von der DDR