Wie im Flug. Ursula Stenzel
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Damit hatte die Odyssee erst ihren Anfang genommen. Von Triest ging es mit dem Schiff nach Lussinpiccolo – heute Mali Lošinj – auf der kleinen, damals noch zum Königreich Jugoslawien gehörenden Insel Lussino, wo sie bis zum Erhalt des amerikanischen Visums zusammen mit anderen Emigranten Unterschlupf fanden. Vera kehrte von dort nach Wien zurück, um die Wohnung aufzulösen – und vor allem, um ihr gerade fünf Monate altes Baby zu versorgen und zu sich zu holen. Auf Henry hatte in der Zwischenzeit eine liebe Haushaltshilfe namens Wetti aus dem Burgenland aufgepasst. Sie kam als ganz junges Mädchen zur Familie und hat sich loyal und anständig verhalten; Richard widmet ihr aus Dankbarkeit ein ganzes Kapitel seiner Erinnerungen. Nachdem der Haushalt aufgelöst war – damit sie in der Zwischenzeit überleben konnten, hatten sie einen Teil ihrer Wohnung an Dr. Jenny Adler vermietet, die Witwe des marxistischen Philosophen Max Adler –, trat Vera mit ihrem geliebten kleinen Sohn Henry die Rückreise nach Lussinpiccolo an, und zwar mit dem Flugzeug über Zagreb. In Zagreb musste sie für die Weiterreise umsteigen und vergaß in der Aufregung und schwer bepackt einen kleinen Koffer, in dessen Innenfutter sie die wichtigsten Dokumente für die Ausreise eingenäht hatte. Dass dieser Koffer fehlte, fiel ihr allerdings erst in Lussinpiccolo auf, woraufhin Richard einige Telefonate und Telegramme an die Fluglinie richtete – keine Antwort. Darauf entschloss er sich zu einer sehr ungewöhnlichen Aktion, die auch viel Mut erforderte. Er drohte dem Direktor des Flughafens von Zagreb mit dem deutschen Botschafter in Belgrad, falls der Koffer nicht umgehend an seine Besitzerin zurückgegeben würde. Und wirklich, es geschah das Wunder, dass der Koffer innerhalb von 48 Stunden an Vera retourniert wurde. In all dieser Zeit in Lussinpiccolo waren Richard und Vera noch nicht im Besitz des Wichtigsten, nämlich des Visums für Frankreich, denn sie mussten am 23. Oktober 1938 von Lussinpiccolo nach Cherbourg, um über den Atlantik nach New York zu fahren. Aus diesem Grund verließen sie ihre kleine Unterkunft auf der idyllischen Adriainsel in Richtung Neapel. Dort weigerte sich der französische Konsul, ihnen ein Visum für Frankreich auszustellen. Er hatte strikte Order, keine Flüchtlinge nach Frankreich zu lassen, auch nicht für die Durchreise. Vera und Richard bezogen damals Quartier in einem Kloster, wo sie von Nonnen aufgenommen wurden. Dass Vera und Richard mit ihrem Säugling nur die Durchreise benötigten, um sich in Cherbourg einzuschiffen, ließ der Konsul nicht gelten; die Schiffskarten genügten ihm nicht als Beweis. Daraufhin bot sich ein Italiener an, der sich auskannte und meinte, er könne das Visum innerhalb weniger Stunden besorgen. Er tat dies auch, aber nicht, ohne zuvor ein sehr wertvolles Zahlungsmittel erhalten zu haben, nämlich die geliebte Plaubel-Kamera Richards. So begab sich die Familie dann auf die nächste Etappe ihrer Reise, nach Cherbourg und dort auf die „Bremen“. Am 27. Oktober 1938 erreichten sie New York. Am Kai erwartete sie Ernst Karl Winter, der bereits im März 1938, wenige Tage vor dem Anschluss, Österreich verlassen hatte und über die Schweiz, Frankreich und Großbritannien in die USA geflohen war. Er erwies sich erneut als guter Freund und gewährte Richard und Vera mit ihrem inzwischen acht Monate alten Säugling in seinem Haus in Tenafly für mehrere Wochen Unterkunft.
Von dort ging es zunächst nach Little Rock, wo sich Vera – wie immer politisch engagiert – für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner einsetzte. Als die Lage dort kritisch wurde und weiße Fanatiker Steine in ihren Vorgarten warfen, übersiedelten sie nach Memphis, wo sie in einem kleinen, bescheidenen Häuschen mit dem typisch amerikanischen Rasenstück davor ihr weiteres Leben verbrachten: Richard arbeitete als Professor für Wirtschaftsgeografie am Christian Brothers College. Vera indes scharte wiederum einen interessanten Freundeskreis um sich. Einer ihrer Freunde war der Philosophieprofessor W. B. Barton jr. Mit ihm zusammen nahm sie die erste Übersetzung ins Englische von Martin Heideggers „Die Frage nach dem Ding“ vor („What Is a Thing?“, Chicago 1967), worauf sie zu einem Philosophenkongress nach Wien eingeladen wurde. Es war ihre erste Rückkehr nach ihrer Emigration. Damals traf ich auch das erste Mal mit den beiden zusammen. Vera hatte offenbar keine Hemmungen, Martin Heidegger zu übersetzen. Die Debatte über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus (er war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen) ging offenbar an ihr vorüber. Immerhin war ja auch eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt, seine Lieblingsschülerin gewesen, zu der er auch eine intime Beziehung hatte. Vera war auf jeden Fall von seinem Werk überzeugt und ihr ganzes Leben lang eine unbequeme Nonkonformistin.
© Privatarchiv
Heidegger-Übersetzerin Vera Deutsch.
5.Bitteres Erwachen aus dem amerikanischen Traum
Abgesehen von meinen journalistischen Reisen in die USA sind es meine Verwandten in Amerika, denen ich ein sehr authentisches Bild von den Vereinigten Staaten verdanke. Mein Cousin Henry Deutsch – äußerst naturverbunden, umweltbewusst und sportlich – war Forstingenieur, im Dienste der amerikanischen Bundesforste u. a. in der Öffentlichkeitsarbeit tätig und ist mittlerweile ein rüstiger Achtziger, für mich fast wie ein älterer Bruder – seine Frau Judy, ausgebildet in frühkindlicher Pädagogik, deren Vorfahren aus Südfrankreich eingewandert waren und es in den USA mit einer Fabrik für Fensterrahmen zu erheblichem Wohlstand gebracht hatten, war eine College-Liebe. Die Fabrik gibt es nicht mehr. Gemeinsam haben sie vier Söhne, die in den USA verstreut leben, von Viroqua bis Sacramento und Los Angeles, und nach wie vor in Memphis.
© Privatarchiv
Cousin Henry Deutsch.
Der älteste der Söhne, in Kalifornien beheimatet, Architekt und Raumplaner, hat im Zuge der Reform des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes4 per Anzeige um die österreichische Staatsbürgerschaft angesucht und diese auch erhalten, ohne deshalb seine amerikanische zu verlieren. Er hat mir dies freudig mitgeteilt, und ich habe ihm ebenso freudig gratuliert. So schließt sich der Kreis. Bei mehreren Besuchen hatte er die Heimat seiner vor den Nationalsozialisten geflohenen Großeltern kennen- und lieben gelernt. Die Vorstellung, dass er mit der Staatsbürgerschaft nun auch das Wahlrecht erworben hat, sehe ich – man möge mir verzeihen – mit gemischten Gefühlen. Ich will nicht pars pro toto sprechen, aber selbst wenn die Verbundenheit meiner amerikanischen Familie mit der ursprünglichen Heimat der Großeltern eine ausgeprägte ist, erscheint mir die Vorstellung, dass mein Neffe nun in Österreich wählen darf, nicht unproblematisch. Seine Kenntnis der österreichischen Situation ist naturgemäß rudimentär. Stimmen wie seine und die der Nachfahren der österreichischen Emigranten fallen allerdings kaum ins Gewicht, im Gegensatz zu den Hunderttausenden Zuwanderern aus vorwiegend islamischen Ländern, denen, wenn es nach dem Willen von Sozialdemokraten und Grünen in Österreich ginge, schon nach sechs Jahren die Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht angeboten würde. Die Aussicht auf deutlich verkürzte Einbürgerungsfristen hat selbstverständlich einen „Pull“-Effekt, ist ein Anziehungsfaktor und dazu angetan, Österreich als Zielland der Migration noch attraktiver zu machen, abgesehen davon, dass eine solche Neuerung selbstverständlich Auswirkungen auf das Wahlresultat hätte. Und zwar nicht zugunsten rechtskonservativer Parteien. Um dies zu erkennen, bedarf es keiner prophetischen Gabe. Doch zurück zu meinen sehr persönlichen amerikanischen Erfahrungen.
© Privatarchiv
Zu Gast (3. v. re.) bei Familie Deutsch in den Vereinigten Staaten.
Die „Deutsches“, wie ich meine in den USA lebenden nächsten Verwandten der Einfachheit halber nenne, sind Demokraten – nicht immer aus Überzeugung, wie mir mein Cousin Henry einmal gestand, sondern aus Mangel an Alternativen. Sicherlich aber ist ihre politische Orientierung ein von den Eltern übernommenes europäisches Erbe. Einer von ihnen, der mittlere