Wie im Flug. Ursula Stenzel

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Wie im Flug - Ursula Stenzel

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war ich auch bei der Familie Alias eingeladen. Sie wohnte in einem großen Haus, abgeschirmt in einem Areal, das von einem Schranken begrenzt war. Es gab eine großzügige Bewirtung. Ich zog mich mit einem älteren Herrn, einem Onkel der Frau meines Neffen Michael, in ein Eck zurück. Im Zuge des Gespräches ließ ich durchblicken, dass die USA für mich noch immer die führende Großmacht des Westens seien. Er war zu Tränen gerührt. Was mir auffiel, war, dass ich während meines gesamten Aufenthaltes in Memphis und danach in Arizona, wo mein Cousin die Wintermonate verbrachte und jetzt mit seiner Frau in einer Altersresidenz lebt, nicht einen einzigen Afroamerikaner und auch keinen Latino zu Gesicht bekam, außer am Flughafen, in Einkaufszentren und Fast-Food-Ketten. Meine Verwandten sind nicht reich, aber Mittelstand, bestrebt, in einer „guten Nachbarschaft“ zu leben. Ihre Kinder besuchen Privatschulen; besonders mein in Memphis lebender Neffe ist bestrebt, Einrichtungen zu unterstützen, die die Integration und Weiterbildung von Kindern unterschiedlichster sozialer Herkunft fördern. Er besitzt übrigens eine Waffe, und dies nicht, weil er der mächtigen Waffenlobby angehört und irgendwelche romantisierten Freiheitsrechte aus dem Wilden Westen verteidigen will, sondern schlicht und einfach aus Angst vor Überfällen. Falls die Polizei zu lange braucht, um vor Ort einzutreffen, will er die Möglichkeit haben, sich und seine Familie zu schützen. Trotz gewaltiger Kraftanstrengungen auch vieler privater Initiativen, die Segregation zu beenden, angefangen bei der Ära Kennedy über Martin Luther King jr., dessen Gedenkstätte in Memphis ich besucht habe, bis hin zu Expräsident Barack Obama, an den der heutige demokratische Präsident Joe Biden anknüpft: Die wenigsten Afroamerikaner sind im Mittelstand angekommen, zumindest in den südlichen Bundesstaaten der USA. Es kommt zu keiner wirklichen Vermischung der unterschiedlichen sozialen Schichten. Und die gesellschaftlichen Spannungen werden verschärft durch die Zuwanderung aus Mittelamerika, besonders kritisch durch den Zustrom über das nördliche Dreieck aus Guatemala, Honduras und El Salvador. In Arizona hat man es nicht weit zur mexikanischen Grenze. Ich habe den noch vor Trump errichteten Grenzzaun gesehen, der die Grenzstadt Nogales durchschneidet. Trump hat diesen Grenzzaun mit NATO-Draht bestückt, der mit messerscharfen Klingen versehen ist, was der Bürgermeister von Nogales als Überreaktion bezeichnet hat. Auf den Autobahnen musste man immer damit rechnen, von einer Polizeistreife auf der Suche nach illegalen Einwanderern, die über die nahe mexikanische Grenze kamen, angehalten zu werden. Auch das Überschwappen von Bandenkriegen auf amerikanisches Territorium war gefürchtet. In den Kirchen wurde für die Flüchtlinge aus Mittelamerika gebetet und gesammelt; private karitative Organisationen heuerten Hubschrauber an, aus denen sie Mineralwasserflaschen über der Sonora-Wüste abwarfen, um die zumeist vor Armut und sozialer Not Flüchtenden vor dem Verdursten zu bewahren, während Polizeistreifen den Wüstensand nach Fußabdrücken Illegaler absuchten. Die Migration spaltet die Gesellschaft auch in den USA, wo sie die vorhandenen sozialen Gegensätze, zugespitzt durch die Corona-Epidemie, noch verschärft. Biden war ausdrücklich angetreten, um die Politik seines schrillen Amtsvorgängers Donald Trump zu revidieren. Das hat die Erwartungshaltung potenzieller Migranten erhöht und die Flüchtlings- und Migrationswellen an der Südgrenze zu Mexiko anschwellen lassen. Darunter befinden sich auch Tausende von unbegleiteten Minderjährigen. Wenn Biden seine ehrgeizigen Sozial- und Beschäftigungsprogramme sowie seine Infrastrukturprojekte, sein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturprogramm nicht gefährden will, kann er sich eine deutlich erhöhte Zulassung von Migranten nicht leisten. Seine Anhänger warten daher vergeblich darauf, dass er die Einwanderungsobergrenze im Vergleich zu seinem Vorgänger deutlich anhebt. Im Moment sei die Zeit nicht reif dafür, heißt es aus dem Weißen Haus. Unterdessen aber staut es sich an der mexikanischen Grenze. Und während Biden auf seiner ersten großen Auslandstour den NATO-Verbündeten und den wichtigsten Industriestaaten der Welt, den G7, sowie Russlands Präsidenten Putin signalisiert hat, dass sich die USA auf die Weltbühne zurückmeldeten, so als ob sie sie unter Trump je verlassen hätten, überlässt er es seiner Vizepräsidentin Kamala Harris, in Mexiko und Guatemala vorstellig zu werden und den potenziellen Auswanderern, die der Armut in ihren Heimatländern entkommen wollen, auszurichten: „Don’t come“, kommt nicht! Er baut zwar keine Mauer, wie Trump es beabsichtigte, der noch dazu Mexiko dafür zahlen lassen wollte, aber Bidens Signale während des Wahlkampfes wurden gleichsam als Einladung zur Migration verstanden. Es war die undankbarste Aufgabe, die er der ersten farbigen Frau im Vizepräsidentenamt antun konnte, die unangenehme Botschaft zu überbringen und gleichsam ein Halteschild für Migration anzubringen. Besonders verübelt wurde Harris, dass sie es nicht der Mühe wert fand, der Südgrenze zu Mexiko einen Besuch abzustatten und selbst mit den Betroffenen zu sprechen. Die Schuld nur bei der Vorgängeradministration zu suchen, die das Grenzsystem in einem angeblich desolaten Zustand hinterlassen habe, ist zu wenig. Die Ernüchterung bei den Wählern Bidens, die nun deutlich die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und Realpolitik wahrnehmen, wird groß sein.

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