Wie im Flug. Ursula Stenzel

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Wie im Flug - Ursula Stenzel

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Zäsur in ihrem Leben, der Moment, von dem an nichts mehr so war wie früher.

      Meine Mutter Elise Stenzel, geborene Jurberger, war, wie mein Vater, Jahrgang 1901. Sie kam aus einer liberalen, emanzipierten jüdischen Familie, typische Vertreter des Wiener Bürgertums der ausklingenden österreichisch-ungarischen Monarchie. Ihr Vater Salomon Jurberger, der 1921 verstarb, war Oberkantor im Leopoldstädter Tempel, menschenscheu und ein Opernnarr. Fast jeden Abend ging er in die Oper, Stehplatz selbstverständlich, und wenn er nach Hause in seine Dienstwohnung in der Czerningasse 21 kam – die Wohnung, in der auch ich aufwuchs – und noch verschlossener war als sonst, stellte seine Frau Klara – eine geborene Stern; auch ihr Vater Leopold Stern war Oberkantor gewesen – nur liebevoll fest: „Mein Gott, heute muss der ‚Pickerl‘ wieder gut gewesen sein.“ Sie meinte natürlich den damaligen Star am Wiener Opernhimmel, Alfred Piccaver. Von meinem Großpapa wurde mir von meiner Mutter auch folgende, offenbar typische Geschichte überliefert: Bei einem seiner Antrittsbesuche als Oberkantor öffnete der Gastgeber die Tür. Wer es war, ist meinem Gedächtnis entschwunden. Nicht entschwunden ist allerdings das, was meinem Großvater spontan herausrutschte, als ihm nach dem Läuten die Tür geöffnet wurde: „Ach Gott, ich habe gehofft, Sie sind nicht zu Hause.“ Wie meine Großmama Klara diesen Fauxpas auszubügeln versuchte, ist mir nicht berichtet worden. Sie sah ihrem Mann ebenso wie seine Kinder – meine Mutter Liesl, ihre ältere Schwester Stella und der Bruder Hermann – seine Eigenheiten, ja Schrullen nach. Er war der geliebte und verehrte „Vaterl“. Klara war die realitätsbezogene Resolute, die die Familie zusammenhielt – mit einem großen Sinn für Humor. Ihr Ausspruch, als die Familie sich einmal rund um den Tisch versammelt hatte und die Kinder offenbar aneinandergerieten, ging ebenfalls in die Familienchronik ein: „Ich dilde das bei Tusche nicht …“, rief sie aus, und ihr Bemühen um gute Tischsitten ging in großer Heiterkeit unter.

      Die Kindheitssommer – die klassische Sommerfrische – verbrachte die Familie in Bad Ischl, und meine Mutter berichtete mir nicht ohne Rührung, wie ihr Vater auf den Balkon des Ferienhauses heraustrat, die Arme ausbreitete und Kaiser Franz Joseph segnete, als dieser einmal mit der Kutsche vorbeifuhr. Ein Ende der Monarchie konnte sich weder die Familie meiner Mutter noch die meines Vaters je vorstellen.

      Dass meine Mutter ihre Kindheitssommer in Ischl verlebte, an das sie idyllische Erinnerungen hatte, verdankte sie vor allem dem Bruder ihrer Mutter, Julius Stern, der Publizist und Kulturkritiker war und sich schon berufsbedingt in Ischl aufhielt, der Metropole der silbernen Operettenära. Die wunderbare Lehar-Villa erinnert heute noch daran. Julius Stern war ein namhafter Feuilletonist, Theater- und Musikkritiker, Mitglied des Presseclubs Concordia und 1909 dessen Vizepräsident. Jahrzehnte später, als ich Publizistik studierte, zählte die Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Presseclubs, die er gemeinsam mit dem Präsidenten der Concordia Sigmund Ehrlich verfasst hatte, zu meiner Pflichtlektüre. Seinen Sohn Alfred, den es nach der Emigration nach Puerto Rico verschlagen hat, wo er an der dortigen Universität Philosophie lehrte, habe ich noch als betagten Herrn kennengelernt.

      Er mochte mich offenbar sehr. Dies erfuhr ich eher zufällig, als ich – schon Stadträtin im FPÖ-Klub – mit der Straßenbahn zu meinem Büro ins Rathaus fuhr und mich eine Dame ansprach, die sich als die engste Freundin Alfred Sterns und seiner bildschönen puerto-ricanischen Frau Gloria zu erkennen gab und mir berichtete, wie liebevoll und stolz Alfred Stern über seine kleine Nichte Uschi gesprochen habe. Ich war zu Tränen gerührt. Vielleicht war auch ein anderer Bruder meiner Großmama, Emil Stern, Ursache der Ischler Sommerfrische: Von ihm wurde mir nur erzählt, dass er Komponist war und eine Operette Joseph Lanners musikalisch überarbeitet hat, die hin und wieder auch heute noch ihren Weg auf die Bühne findet und den Titel „Alt-Wien“ trägt.

      Dass die Familie sich diese Sommerfrische in Ischl leisten konnte, verdankte sie sicher Maximilian Stern, dem ältesten Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits, der die Familie als Begründer der Firma Schiff & Stern großzügig unterstützte. Die Firma, die wärmetechnische Geräte herstellte – solange das Rauchen noch nicht verpönt war, übrigens auch Tabakbefeuchtungsanlagen –, existiert heute noch unter dem gleichen Namen und gehört der Familie Joseph Trösch, die vor dem Erwerb dieses Unternehmens die letzte Molkerei in Wien betrieben hat. Sie hat die Firmenunterlagen von Schiff & Stern dankenswerterweise aufbewahrt und mir im Zuge meiner Recherchen für dieses Buch übergeben, wodurch ich auch authentische Unterlagen über den Sohn von Max Stern, DI Roland Stern, besitze. Roland Stern, der Cousin meiner Mutter, konnte nach London emigrieren und war eine für mich prägende Persönlichkeit. Er lebte jeweils ein halbes Jahr in England und ein halbes Jahr in Wien und wäre lieber Schriftsteller geworden als Diplomingenieur für Maschinenbau sowie Unternehmer, obwohl er auch in wirtschaftlichen Belangen durchaus erfolgreich war. Ich wage zu behaupten, dass er ein Genie war. Nie vorher und nie nachher bin ich einem Menschen von so umfassendem literarischen, kunsthistorischen und musikalischen Wissen begegnet wie ihm. Er führte mich noch während der Schulzeit in die schwierigsten Opern ein, so in „Ariadne auf Naxos“, eines seiner Lieblingswerke von Richard Strauss. Er setzte sich einfach ans Klavier und spielte mir die Motive vor, ohne Partitur – er spielte auswendig. Ebenso das Spätwerk Giuseppe Verdis, „Falstaff“ und viele andere klassische „Zuckerln“. Wenn er nicht gerade selbst Gäste hatte, war er entweder im Theater, in der Oper, im Konzert oder im Kino. Auch seine Geschäftsfreunde nahm er in die Oper oder ins Theater mit, nicht immer zu deren Vergnügen, wie ich annehme. Er schätzte und kannte das Werk Arthur Schnitzlers in all seinen Facetten. Einmal hielt der großartige Schriftsteller Manès Sperber einen Vortrag in Wien über „Schnitzler und die Unfähigkeit zu lieben“. Roland konnte nicht und schickte mich hin, die ich als Studentin kaum einen Vortrag in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ausließ, um ihm darüber zu berichten. Der Vortrag war insofern bemerkenswert, als Sperber Arthur Schnitzler, dem scharfsinnigen Beobachter der Erotik der Jahrhundertwende und Verfasser des „Reigens“, des „Einsamen Weges“ usw. vorwarf, dass dieser eigentlich unfähig zu lieben gewesen sei, und eine schonungslose Abrechnung mit der schwülstigen Erotik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vortrug. Für mich war dieser Wunsch meines Onkels, ihm über den Vortrag Manès Sperbers zu berichten, mehr wert als so manche Vorlesung am Institut für Zeitungswissenschaft. Noch dazu, da ich dessen Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ über die grausamen Geschehnisse auf dem Balkan während des Zweiten Weltkrieges verschlungen hatte und auch die erschütternde Verfilmung kannte. So war ich später, als ich bereits die „Zeit im Bild 2“ moderierte und Sperber interviewen durfte, auf diese Aufgabe gut vorbereitet.

      Roland Stern war auch „schuld“ daran, dass mein Vater meine Mutter kennenlernte. Die Leben von ihm und meinem Vater waren seit der gemeinsamen Schulzeit im Realgymnasium in der Vereinsgasse und danach während des Maschinenbaustudiums an der Technischen Hochschule in Wien eng miteinander verbunden. Schon während der Realschulzeit verkehrte mein Vater im Hause der Familie Stern, und das änderte sich auch während der Studienzeit nicht. In diesem Haus lief ihm auch eines Tages, als er mit Roland wieder höhere Mathematik für eine Abschlussprüfung an „der Technik“ lernte, eine dunkelhaarige junge Frau über den Weg, und er fragte Roland, wer sie sei. „Meine Cousine Liesl – willst du sie kennenlernen?“ So nahm eine schicksalhafte Begegnung ihren Anfang, die schließlich im März 1931 zur Ehe führte.

      © Privatarchiv

       Meine Eltern auf Hochzeitsreise in Amsterdam (1931).

      Meine Mutter arbeitete damals vorübergehend in der Firma ihres Onkels im Büro. Ihre Leidenschaft aber galt dem Theater; sie hat ihre Ausbildung an der Akademie im Jahrgang vor Paula Wessely absolviert. Aus dieser Zeit stammte eine große gegenseitige Wertschätzung. Paula Wessely soll einmal in einer Pause zu ihr gesagt haben: „Liesl, wenn ich dein Talent hätt …!“ Und meiner Mutter blieb ihr Gretchen in der Max-Reinhardt-Inszenierung von Goethes „Faust“ in Salzburg unvergesslich. Knapp nach dem Anschluss sind sie einander einmal zufällig auf der Praterstraße begegnet und haben sich umarmt in einem Gefühl der Hilflosigkeit.

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