"Du sollst nicht töten". Ursula Corbin

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Auch ihr bedeutet diese Brieffreundschaft immer mehr und wird zu einem wichtigen Teil in ihrem Leben. Je mehr sie sich verbunden und verstanden fühlt, desto leichter kommen auch bei ihr Gefühle auf.

      Oft wird dann verdrängt, dass dieser Mann kein unbeschriebenes Blatt ist und dass er nun wegen eines Mordes zum Tode verurteilt wurde. Die Frau beginnt alles erdenklich Gute auf ihn zu projizieren – all das, was sie sich von einem Mann erträumt. Auf einmal sieht sie in ihm den idealen Mann, der Einzige, der sie versteht, der einfühlsam ist und sie bedingungslos liebt, so wie sie ist. Sie will gar nicht mehr daran denken, dass sie niemals die Gelegenheit haben wird, mit ihm zusammen zu sein. Sie versinkt in ihrer Fantasiewelt, was für beide ja auch schön sein kann: raus aus der brutalen Wirklichkeit, hinein in eine Welt voller Möglichkeiten.

      Solange nur die beiden involviert sind in einer solchen Beziehung, ist das auch in Ordnung. Beide haben nichts zu verlieren, und es geht auch nur sie beide etwas an. Problematisch wird es dann, wenn, wie im Falle von Mary, ein Ehemann oder Kinder betroffen sind und Familien oder Beziehungen daran zerbrechen.

      Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, es ist oft eine äußerst schwierige Gratwanderung: Zu geben – und doch nicht zu viel –, zu nehmen – und doch immer Grenzen aufzuzeigen!

       Grüße aus dem Radio

      Es war wieder einer dieser feucht-heißen Tage in Texas; mein Auto hatte sich auf dem Parkplatz des Gefängnisses von Ellis One in einen Backofen verwandelt. Völlig erschöpft von der emotionalen Anspannung während meines Besuches bei Clifford und dieser Hitze, kam ich eine halbe Stunde später im Motel in Huntsville an. Obwohl es eine billige Unterkunft war, gab es eine Klimaanlage im Zimmer. Die kühle Luft half dennoch nicht, es roch muffig.

      Ich zog meine Schuhe aus und schlüpfte gleich in die Flipflops, um mit meinen Füßen auf keinen Fall den garantiert mit Bakterien getränkten Teppich im Zimmer betreten zu müssen. Wie bei nahezu allen amerikanischen Motels gab es auch in diesem nur ebenerdige Zimmer, ständig gingen Leute vor dem Fenster hin und her, darum ließ ich die Vorhänge des Fensters immer zu. Ohne das Licht anzumachen, ließ ich mich aufs Bett fallen. Als ich die Augen wieder öffnete, bemerkte ich das blinkende rote Licht am Telefonapparat; jemand hatte eine Nachricht für mich an der Rezeption hinterlassen. An der Rezeption erzählte mir die ältere, rundliche Frau, die Dienst hatte, dass während meiner Abwesenheit ein Anruf von einer lokalen Radiostation für mich gekommen sei. Sie reichte mir einen Zettel mit einer Nummer und der dringenden Bitte um einen Rückruf.

      Unter der Nummer meldete sich eine weibliche Stimme, die sofort wusste, wer ich war. Sie hatte von irgendjemandem erfahren, dass ich mit Clifford Phillipps in Kontakt stehe und ihn regelmäßig besuche. Da Mr. Phillipps in wenigen Tagen hingerichtet werde, sei mein jetziger Aufenthalt in Huntsville vermutlich der letzte Besuch bei ihm. Ob ich bereit wäre, ihnen ein Interview zu gewähren, das sie im Rahmen ihrer Berichterstattung über Cliffords Hinrichtung ausstrahlen möchten? Ich fühlte mich überrumpelt, sagte dann trotzdem zu, ihren Kollegen am folgenden Tag in einem mexikanischen Restaurant gleich um die Ecke von meinem Motel zu treffen. Sein Erkennungsmerkmal: eine Zeitung unter dem Arm.

      Ein großer, hagerer und nicht unsympathischer Mann stellte sich als John Hudson vor, Reporter bei der lokalen Radiostation, und er lotste mich in eine ruhige Ecke des Restaurants. Zuerst bestellten wir etwas zu essen und plauderten über Belanglosigkeiten, doch er wurde zunehmend ungeduldiger und signalisierte, dass er so schnell wie möglich mit dem Interview beginnen wollte. Kaum hatte er das Mikrofon eingestellt, legt er los: Warum ich ausgerechnet jemandem schreibe, der zum Tod verurteilt worden sei? Ob mir klar sei, dass Clifford Philipps schuldig sei? Und ob ich wisse, dass er eine Frau umgebracht habe? Er wollte wissen, was mir in Bezug auf die bevorstehende Hinrichtung durch den Kopf gehe und ob ich mich entschieden hätte, dabei zu sein. Selbst die Angehörigen der getöteten Frau brachte er ins Spiel, er wollte wissen, ob ich mich auch mit ihrer Seite der Geschichte beschäftige und sie kontaktiert hätte?

      Eine ganze Stunde dauerte das Gespräch, und ich beantwortete geduldig jede seiner Fragen. Ein paar Tage darauf wurde dieses Interview in der Umgebung von Huntsville ausgestrahlt.

      In den 1990er-Jahren hatte jeder Gefangene noch die Möglichkeit, sich eines der kleinen, simplen Radios im Gefängnisladen zu kaufen, die dort von den Behörden zu völlig überteuerten Preisen angeboten wurden. Nur die Gefangenen, die etwas Geld von ihrer Familie oder von Freunden erhielten, konnten sich ein Radio leisten. Das Programm der lokalen Radiostation, das für alle Bewohner der Region gedacht war, wurde in den verschiedenen Gefängnissen gut empfangen und war bei den Gefangenen ausgesprochen beliebt.

      Etwa zwei Wochen nach Ausstrahlung meines Interviews in Huntsville begann sich mein Briefkasten in Zürich mit Briefen aus Texas zu füllen. Der Sender hatte jedem Insassen, der bei der Redaktion nach meiner Anschrift fragte, meine genaue Adresse in der Schweiz bekannt gegeben, und ich wurde mit Anfragen von Gefangenen überhäuft. Falls Clifford nun hingerichtet werde, könnte ich vielleicht ihnen schreiben.

      Ich war völlig überrumpelt und legte die Briefe vorerst auf die Seite. Noch lebte Clifford, und ich hatte weder die Absicht noch die Zeit, andere Brieffreundschaften anzufangen. Ein paar Monate später nahm ich die vielen Briefe trotzdem hervor, denn ich empfand es als feige von mir, nicht wenigstens zu antworten und zu erklären, warum ich nicht mehr schreiben wollte. Also las ich jeden einzelnen Brief und legte dar, dass Cliffords Tod für mich kaum zu verkraften war und ich das, so leid es mir tue, nicht noch einmal durchstehen könne.

      Doch einige dieser Gefangenen gaben nicht auf und antworteten wieder. Jeder bat mich darum, wenigstens seine Adresse zu behalten für den Fall, dass ich meine Meinung ändern würde und doch eines Tages wieder mit jemandem korrespondieren möchte …

      Das Ganze endete damit, dass ich ein paar Monate später doch wieder anfing, vier von diesen Männern regelmäßig zu schreiben. Und es blieb nicht dabei. Eine Kollegin stand in Briefkontakt mit einem Gefangenen in der Todeszelle in San Quentin, Kalifornien. Dieser wiederum hatte einen guten Freund im Gefängnis, der unbedingt eine Brieffreundschaft suchte. Also fragte sie mich, ob ich nicht vielleicht auch ihm schreiben könne …

      Wie wichtig das Medium Radio für Gefangene ist, zeigt die Geschichte der Station KDOL, die ich im Internet fand.

       »The Shout-out Show« auf Radio KDOL 96.1

      Eine kleinere Radiostation, KDOL 96.1 in Livingston, Texas, durchbricht Gefängnismauern. Die »Shout-out Show« wird jeweils sonntags zwischen 14:00–19:00 Uhr ausgestrahlt und gibt Familienmitgliedern, Freunden und vor allem den Gefangenen in Polunsky Unit die Möglichkeit, sich per Radio zu verbinden.

      KDOL, eine lokale Radiostation, die von Jim und Joy Wolf im Jahre 2003 gegründet wurde, sendet ihr Programm aus dem Hause der Wolfs im Zentrum von Livingston. Alles begann damit, dass die Wolfs mit einem Mann in der Todeszelle namens Greg Summers zu korrespondieren begannen. Dieser war ein eifriger Hörer ihres Programms und fragte sie eines Tages an, ob sie für ihn »Irish Blessings« spielen könnten. Daraufhin baten auch andere Gefangene darum, dass ihre Musikwünsche gesendet wurden. Im Mai 2005 wurde KDOL via Web Radio online gestellt, und die »Shout-out Show« entwickelte sich schnell von einem einfachen Wunschkonzert zu einem Kommunikationskanal zwischen Gefangenen und ihren Angehörigen.

      Die Gefangenen erzählten sich untereinander von dieser Sendung. Da sie keine Möglichkeit haben, live anzurufen und so ihre Grüße und Nachrichten durchzugeben, schicken sie ihre Botschaften per Brief. Die Wolfs bekommen jede Woche zwischen 35 und 60 Briefe aus dem Gefängnis. Darin enthalten sind Musikwünsche und Dankesworte, aber auch Nachrichten für Familien und Freunde, in denen die Gefangenen ihre Zuneigung und Verehrung ausdrücken.

      Zusätzlich erhalten die Wolfs jede Woche fast

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