Gesammelte Werke. Sinclair Lewis

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Gesammelte Werke - Sinclair Lewis

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sprach Kennicott von der Wahrscheinlichkeit, daß Montana und Oregon bessere Gelegenheiten für einen Arzt böten. Sie wußte, daß er mit Gopher Prairie zufrieden war, aber es gab ihr so etwas wie Hoffnung, wenn sie sich in Gedanken damit beschäftigen konnte, auf dem Bahnhof Fahrpläne zu studieren und mit unruhigem Zeigefinger über Karten zu fahren.

      Dem gleichgültigen Beobachter jedoch erschien sie nicht unzufrieden, erschien sie nicht als anormale und betrübende Verräterin am Glauben der Hauptstraße.

      Seitdem sie das Kind hatte, nahm sie Gopher Prairie und das braune Haus ernst und betrachtete sie als natürliche Stätten des Wohnens. Sie machte Kennicott Freude, indem sie in ebenso beschaulicher Reife wie Frau Clark und Frau Elder freundlich war, und als sie oft genug über den neuen Cadillac der Elders gesprochen hatte, oder über den Posten, den der älteste Sohn Clarks jetzt im Kontor der Mühle bekleidete, wurden ihr die Themen wichtig.

      Da neun Zehntel ihres Gefühlslebens auf Hugh konzentriert waren, kritisierte sie nicht Läden, Straßen, Bekannte … in diesen ein oder zwei Jahren. Sie lief in Onkel Whittiers Laden, um ein Paket Maisflocken zu holen, sie hörte zerstreut zu, wenn Onkel Whittier Martin Mahoney anklagte, er habe behauptet, daß am letzten Dienstag Süd- und nicht Südwestwind gewesen sei, sie ging zurück durch Straßen, die weder Überraschungen noch erschreckend fremde Gesichter zeigten. Ihre Gedanken beschäftigten sich unterwegs mit Hughs Zahnen, sie dachte nicht daran, daß dieser Laden, diese langweiligen Häuserblocks der Hintergrund ihres ganzen Lebens waren. Sie tat ihre Arbeit und triumphierte, wenn sie den Clarks beim Bridge fünfhundert Points abgewann.

      5

      Das bedeutsamste Ereignis in den zwei Jahren nach Hughs Geburt war Vida Sherwins Abgang von der Hochschule und ihre Heirat. Carola war Trauzeugin, und da die Hochzeit in der Anglikanerkirche stattfand, erschienen alle Damen in neuen Glacépumps und langen weißen Glacéhandschuhen und sahen fein aus.

      Seit Jahren war Carola Vidas kleine Schwester gewesen, ohne auch nur zu ahnen, in welchem Maße Vida sie liebte und haßte, in welch seltsamer Gefühlsverwirrung Vida an sie gebunden war.

      Zwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      1

      Grauer Stahl, der unbewegt erscheint, weil er sich so rasch im ausgewuchteten Schwungrad dreht, grauer Schnee in einer Ulmenallee, graue Dämmerung, hinter der die Sonne steht – das war das Grau von Vidas Leben, als sie neununddreißig Jahre alt war.

      Sie war klein, lebhaft und bleich; ihr gelbes Haar war farblos und sah trocken aus; ihre blauen Seidenblusen, bescheidenen Spitzenkragen, hohen, schwarzen Schuhe und Matrosenhüte waren pedantisch und reizlos wie ein Schulzimmerpult; aber ihre Augen bestimmten die Erscheinung, zeigten, daß sie eine Persönlichkeit und eine Kraft war, verrieten ihren Glauben an das Gutsein und die Zweckhaftigkeit aller Dinge. Diese Augen waren blau und standen nie still; sie drückten Belustigung, Mitleid, Begeisterung aus. Hätte man sie schlafend gesehen, wenn die Fältchen an ihren Augen in Ruhe waren und die gerunzelten Lider die strahlende Iris verbargen, dann hätte sie ihre Macht verloren.

      Sie war in einem hügeligen Wisconsin-Dorf geboren, wo ihr Vater ein langweiliges Landpastorat innehatte; sie arbeitete sich durch ein frömmelndes College; sie unterrichtete zwei Jahre in einem Städtchen voller Tataren und Montenegriner und Unmengen von Eisenerz, und als sie nach Gopher Prairie kam, riefen die Bäume und die schimmernde Geräumigkeit der weizenbewachsenen Prärie in ihr die Gewißheit wach, sie sei im Paradies.

      Sie lehrte Französisch, Englisch und Geschichte und hatte die zweite Lateinklasse, die sich mit Dingen metaphysischer Natur, genannt Indirekte Rede und Ablativus absolutus, beschäftigte. Jedes Jahr gewann sie von neuem die Überzeugung, daß die Schüler anfingen, schneller zu lernen. Sie wendete vier Winter daran, die Debattiergesellschaft aufzubauen, und als die Debatten dann tatsächlich an Freitagnachmittagen stattfanden und die Sprecher ihre Konzepte nicht vergaßen, fühlte sie sich belohnt.

      Sie lebte ein Leben, das ganz von Nützlichkeit in Anspruch genommen war, und schien so kalt und unkompliziert zu sein wie ein Apfel. Aber insgeheim bewegte sie sich zwischen Angstgefühlen, Sehnsüchten und Schuldbewußtsein. Sie wußte, was es war, wagte aber nicht, es beim Namen zu nennen. Schon der Klang des Wortes »Geschlecht« war ihr verhaßt. Wenn sie träumte, eine Haremsfrau zu sein, mit großen weißen, warmen Gliedern, erwachte sie zu einem Schaudern, hilflos im Dunkel ihres Zimmers. Sie betete zu Jesus, immer zum Sohn Gottes, weihte ihm die furchtbare Gewalt ihrer Anbetung, nannte ihn den ewigen Bräutigam, wurde leidenschaftlich, begeistert, groß, wenn sie seine Herrlichkeit betrachtete. So konnte sie es ertragen, überstehen.

      Tagsüber, in ihren vielen Tätigkeiten geschäftig, war sie imstande, sich über ihre höllisch dunklen Nächte lustig zu machen. Mit gemachter Heiterkeit verkündete sie allerorten: »Ich bin wohl eine geborene alte Jungfer«, »Eine einfache Schulmamsell wie mich wird nie im Leben ein Mensch heiraten«, und: »Ihr Männer, ihr großen, dicken, lauten, lästigen Geschöpfe, wir Frauen würden euch gar nicht dulden und uns nicht die netten, sauberen Zimmer von euch verschmutzen lassen, wenn ihr nicht gehätschelt und geführt werden müßtet. Wir würden ganz einfach ›Ksch!‹ machen und euch alle davonjagen!«

      Aber wenn ein Mann sie beim Tanzen an sich preßte, sogar wenn »Professor« George Edwin Mott ihr bei Betrachtungen über die Ungezogenheit Cy Bogarts väterlich die Hand tätschelte, erbebte sie und dachte voll Stolz daran, daß sie sich ihre Jungfräulichkeit erhalten hatte.

      Im Herbst 1911, ein Jahr bevor Dr. Will Kennicott heiratete, war Vida seine Partnerin bei einem Bridgeturnier auf fünf Rubber. Damals war sie vierunddreißig, Kennicott etwa sechsunddreißig. Für sie war er ein erhabenes, jungenhaftes, amüsantes Wesen, alle Heldeneigenschaften in einem männlich prachtvollen Körper. Sie hatten der Gastgeberin beim Herumreichen von Waldorf-Salat, Kaffee und Kuchen geholfen. Sie saßen in der Küche Seite an Seite auf einer Bank, während die anderen gewichtig im Zimmer nebenan speisten.

      Kennicott war männlich und neugierig auf sie. Er streichelte Vida über die Hand, legte nachlässig seinen Arm um ihre Schulter.

      »Nicht!« sagte sie scharf.

      »Sie sind eine hübsche Person«, meinte er, ihr tastend auf den Rücken klopfend.

      Während sie sich wegbog, sehnte sie sich danach, näher an ihn heranzurücken. Er beugte sich zu ihr hinüber und sah sie wissend an. Sie blickte zu seiner linken Hand hinunter, die ihr Knie berührte. Dann sprang sie auf und begann lärmend, völlig überflüssigerweise, Geschirr abzuwaschen. Er war zu träge, um dem Abenteuer weiter nachzugehen – und in seinem Beruf zu sehr an Frauen gewöhnt. Sie war ihm für die Unpersönlichkeit seiner Unterhaltung dankbar. So konnte sie wieder die Herrschaft über sich gewinnen. Sie wußte, daß sie ganz nahe an ausschweifenden Gedanken gewesen war.

      Einen Monat später, bei einer Schlittenpartie, als er mit ihr unter den Büffelhautdecken saß, flüsterte er: »Sie tun so, als ob Sie eine erwachsene Schullehrerin wären, und sind doch nichts weiter als ein kleines Kind.« Sein Arm umfaßte sie.

      Sie wehrte sich.

      »Haben Sie den armen einsamen Junggesellen nicht ein bißchen gern?« schmachtete er einfältig.

      »Nein! Ihnen liegt gar nichts an mir. Sie wollen sich nur an mir üben.«

      »Das

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