Der Schlüssel zur anderen Welt. Jörg Kressig
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Ein paar Tage vergingen und es war an der Zeit, zu der Wohnung meiner Großmutter zu fahren. Wir planten, ihren Besitz unter der engsten Verwandtschaft aufzuteilen. Obwohl sie nicht reich war, kümmerte sie sich doch gut um das, was sie hatte, und legte Wert darauf, es mit ihren Enkeln zu teilen. Ich ging dieselben Stufen der Veranda hinauf, auf denen ich laufen gelernt hatte, und erinnerte mich an die Sommer, die wir hier zusammen verbracht hatten. Wir saßen auf der Veranda und hatten Brettspiele gespielt oder Spaziergänge im Sonnenuntergang gemacht. Das war das erste Mal, dass die Familie seit ihrem Tod bei ihr zusammenkam. Wir fühlten uns unweigerlich nostalgisch, aber das hielt nur kurz an. Als wir die Haustür öffneten, stellten wir fest, dass fast alles, was sie besessen hatte, weg war. Später erfuhren wir, dass ein entfernter Verwandter und seine Frau alles aus dem Haus geschafft hatten, was zu finden war. Meine nahen Verwandten waren entsetzt, als sie feststellen mussten, dass abgesehen von den Dingen von materiellem Wert auch alles verschwunden war, was uns viel mehr bedeutete: die Sachen mit sentimentalem Wert, den man nicht mit Geld aufwiegen konnte. Mit einer Mischung aus Trauer, Kummer, Wut und Frustration sah sich meine Familie nach irgendwelchen Dingen von sentimentalem Wert um, die an meine Großmutter erinnern würden. Fotografien, mit denen wir aufgewachsen waren, standen auf einmal hoch im Kurs. Eine Aura der Verzweiflung zog sich durch das Haus. Als wir uns zum letzten Mal umsahen, verkündete meine Cousine, dass sie unter dem Bett ein hölzernes Schmuckkästchen gefunden hatte. Ich rannte in das Zimmer und öffnete das Kästchen. Darin war ein einzelnes Schmuckstück – ein goldener Anhänger mit einer Kette.
Als ich die Kette in der Hand hielt, von der meine Großmutter gesagt hatte, dass sie mir zugedacht war, überwältigten mich Gefühle. In einer Serie von Blitzen schossen mir die Bilder, die sie mir kommuniziert hatte, durch den Kopf. Jetzt begriff ich, was sie mir hatte sagen wollen. Die roten Rosen waren ihre Art anzuerkennen, dass sie geliebt wurde, weil sie zu Dutzenden von Leuten niedergelegt worden waren, die sie kannten und denen sie wichtig war. Der Marienkäfer war eine Erinnerung, dass sie immer bei uns sein würde. Und die tiefste Einsicht war, dass meine Großmutter darum gewusst hatte, dass bestimmte Familienmitglieder ihren Besitz zu ihrem Gewinn plündern würden, statt in einer Zeit des Verlusts als Familie zusammenzukommen. So ließ sie uns wissen, dass die enttäuschenden Entscheidungen der Lebenden ihren Frieden auf der anderen Seite nicht störten.
In dem Moment verstand ich, dass die Symbole und ihr Kontext oft viel tiefere Botschaften in sich bergen, als es zunächst den Anschein hat. Mehr als alles andere führte es mir vor Augen, dass mein verzweifelter Wunsch, mich in der Nacht ihres Todes von meiner Großmutter zu verabschieden – ein Gefühl, das wohl viele nachvollziehen können, die sich einem Verlust gegenübersehen – unnötig gewesen war. Der Tod bedeutet nicht, dass man Lebewohl sagen muss.
Erste Visionen
In den Jahren nach dem Tod meiner Großmutter änderte sich mein Leben stark. Ich machte meinen Tagesablauf durch und war mir der Welt um mich herum bewusst, aber ich begann auch, neue Eindrücke und Bilder zu erfahren. Sie unterschieden sich in ihrer Beständigkeit – manchmal kamen sie im Traum, manchmal im Wachen. Manchmal sah ich viele an einem Tag; zu anderen Zeiten konnten Wochen ohne bemerkenswerte Visionen oder Einsichten vergehen. Ich wusste irgendwie, was geschah, oder hatte doch eine Vermutung. Es war jedoch nur eine bizarre, scheinbar willkürliche Fähigkeit. Es gab kein Benutzerhandbuch, das mir gesagt hätte, worum es sich dabei handelte oder wie ich sie benutzen sollte.
Ich war dankbar, dass ich meine Großmutter hatte loslassen dürfen, aber ich war auch überrascht, dass sie keine Botschaften für meine Mutter oder meinen Vater geschickt hatte. Sie betrauerten ihren Verlust noch immer zutiefst. Wie ich später lernen sollte, machen manche Individuen nach ihrem Tod einen Prozess durch, bei dem sie »Funkstille« mit unserer Daseinsebene halten. Sie gehen ihr Leben noch einmal durch, um ein tieferes Verständnis der Wirkung, die sie hinterlassen haben, zu erlangen. Die Zeit, die dieser Prozess in Anspruch nimmt, ist bei jedem Individuum anders und davon abhängig, wie sie sich nach ihrem Hinübergehen auf den neuen Zustand einstellen. Ich habe erfahren, dass es nach dem Tod völlig normal sein kann, aus mehreren Gründen von seinen Lieben abgekoppelt zu fühlen. In anderen Fällen erleben Menschen Zeichen von ihren Lieben schon kurz nach deren Tod. Die Art, wie ein Individuum von der anderen Seite sich entscheidet, Kontakt aufzunehmen, kann variieren. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr die Verstorbenen das Wesen derer widerspiegeln, die sie im Leben waren.
Auch wenn ich nur wenige bekannte Gesichter in meinen medialen Sitzungen gesehen habe, kamen doch um so mehr Fremde durch. Sie versuchten, ihre Botschaften mit mir zu teilen, manchmal erfolglos. Die meisten dieser frühen Visionen kamen in einer Form, die wir alle kennen: in Träumen. Meine Jahre in der Mittelschule waren voll nächtlicher Schrecken und frustrierender Träume, die anstrengender waren als das Wachen, und zwar weil ich während der meisten innerlich wach war. An den wenigen Morgen, an denen ich mich nicht an die Träume der vergangenen Nacht erinnern konnte, fühlte ich mich kurz normal und erleichtert. Anfangs war es faszinierend, mit kristallklarem Bewusstsein in die unterschiedlichsten Situationen versetzt zu werden, aber bald fühlte es sich mehr wie eine Plage an statt wie eine nützliche Fähigkeit. Alles, was ich mir wünschte, war davon frei zu sein.
Eines Morgens wachte ich auf, nachdem mich eine Frau mit einer spezifischen Nachricht für meine Mutter besucht hatte. Ich war im Tiefschlaf und wie immer innerlich wach, als eine kurzhaarige Brünette vor mir auftauchte. Sie war nicht viel älter als meine Eltern. Anders als meine Großmutter, die in meiner ersten Version als Jugendliche auftrat, projizierte diese Frau das Alter, in dem sie gestorben war. Da ich mir nicht sicher war, ob sie mit mir reden würde, versuchte ich so viele Hinweise wie möglich über das Leben dieser Frau und die Ereignisse, die zu ihrem Tod geführt hatten, zu sammeln. Mir fielen ihre langen Ohrringe auf, die ihr fast bis auf die Schultern herabhingen. Sie trug Stoffe in den unterschiedlichsten Farben und es faszinierte mich, wie kompliziert und detailverliebt ihr Erscheinungsbild war. Besonders faszinierte mich die Tatsache, dass jene, die mich nachts besuchten, so gekleidet waren, als seien sie niemals gestorben. Von allen Fragen, die sich mir stellten, machte mich die Tatsache, dass Verstorbene bestimmte Kleidung trugen, am neugierigsten und verblüffte mich zugleich auch.
Nein, in der geistigen Welt wird kein Polyester hergestellt. Wie ich später herausfand, hängt das Erscheinungsbild eines Verstorbenen gegenüber einem Medium damit zusammen, wie er sich zu präsentieren entscheidet. Normalerweise zeigen sich die Seelen auf eine Art, mit der wir etwas anfangen können – ganz so wie im Leben, da das Erscheinungsbild eines Menschen uns intime Details seiner Persönlichkeit verraten kann.
Im Fall der Frau, die vor mir stand, konnte ich aufgrund der leuchtenden Farben, mit denen sie sich schmückte, sagen, dass es sich bei ihr um jemanden handelte, den man als »Charakter« bezeichnen würde. Mit rauer Stimme sagte sie: »Sag deiner Mutter, dass eine Blume für sie bei meiner Beerdigung bereitliegt. Sie wird sie erkennen.«
Bevor ich die Botschaft verarbeiten oder um zusätzliche Details bitten konnte, wachte ich plötzlich auf. Mein Gesicht war heiß und verschwitzt. Erschöpft öffnete ich die Augen und die Sonne schien zum Fenster herein. Meine Mutter stürmte ins Zimmer, wie so oft. Da ich meine Botschaft für sie nicht vergessen wollte, platzte ich, ohne nachzudenken, mit dem heraus, was ich vor nur einigen Augenblicken gesehen hatte. Was folgte, war einer der Wendepunkte unserer Beziehung, sie bekam eine Bestätigung auf die persönlichste Art, die man sich vorstellen kann.
Die Haare auf den Armen meiner Mutter richteten sich auf und sie sah auf einmal nicht länger geistesabwesend aus, sondern völlig aufmerksam. Unsicher, wie sie reagieren sollte, setzte sie sich still hin. Plötzlich rannte sie aus dem Zimmer und ein paar Sekunden später kam sie wieder – mit einer schwarzen Seidenblume und einem Foto. In diesem Moment erst bemerkte ich, dass meine Mutter ganz in Schwarz gekleidet war. Sie erklärte mir, dass sie gerade von der Beerdigung einer langjährigen Freundin nach Hause gekommen sei. Wir starrten einander an. Meine Mutter hatte niemandem erzählt, dass sie auf die Beerdigung einer Freundin ging, ganz