Change. Gaurav Gupta
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Genauer gesagt ist es so, dass sich, allgemein betrachtet, die Stärke, Komplexität und Unberechenbarkeit der Veränderungen in unserer Umwelt in Wellen erweitert, und zwar schon seit der Zeit vor der Industriellen Revolution. So gut wie alle verfügbaren Daten deuten zudem darauf hin, dass sich dieser Trend auf vielfältige Weise fortsetzen wird, auch nachdem sich die gegenwärtige Covid-19-Krise wieder gelegt haben wird. Die Kräfte potenzieller Transformationen beschränken sich nicht auf eine weitere Pandemie, sondern es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Möglichkeiten: Künstliche Intelligenz, andere disruptive Technologien, globale Integration oder soziale und politische Bewegungen, die heute weltweite Wirkungen entfalten.
Darüber hinaus wächst unzweifelhaft die Kluft zwischen dem riesigen Ausmaß der Veränderungen, die um uns herum geschehen, und den eher bescheidenen Veränderungen, die wir erfolgreich und auf sinnvolle Weise in den meisten Organisationen und in unserem Leben umsetzen können. Wie wir Ihnen in den folgenden Kapiteln zeigen werden, wird die Trennung dieser beiden Entwicklungen immer gefährlicher – vor allem dann, wenn die Menschen davon überzeugt sind, dass ihre derzeitigen schrittweisen Verbesserungen völlig ausreichen.
Die Risiken, die wir eingehen, werden dagegen immer unnötiger, weil die aktuell im Entstehen begriffene Wissenschaft der Veränderungen, die wir im folgenden Kapitel näher darstellen werden, Schritte zur Dämpfung ungünstiger Auswirkungen anbietet. Diese Informationen sind sowohl verfügbar als auch umsetzbar. Sie gründen auf der Neurologie, Wirtschaftsgeschichte, Organisationsforschung, Leadership und weiteren Bereichen. Wir stellen fest, dass es möglich ist, die Erkenntnisse dieser Wissenschaft in reproduzierbare, erlernbare Methodologien umzuwandeln und sie in Playbooks zu fassen, die in spezifischen Situationen anwendbar sind.
Einige Unternehmen haben diesen Grundstock an Wissen bereits angezapft. Sie mobilisieren ihre Leute und erzielen kaum vorstellbare Ergebnisse, indem sie die Gelegenheiten ergreifen, die ihnen die zunehmende Veränderung bietet. Diese Chancen haben das Potenzial, auch der Gesellschaft insgesamt großen Wert zu liefern.
»Der Sturm geht jetzt erst los«
Am 16. Januar 2020 sagte der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, Herbert Diess, in seiner Rede vor den leitenden Managern des Konzerns: »Wenn wir in unserem jetzigen Tempo weitermachen, wird es sehr eng. … Der Sturm geht jetzt erst los. … Die Zeit klassischer Automobilhersteller ist vorbei.«1
Wir würden dem nur hinzufügen, dass sowohl unsere formale Forschung als auch unsere Beratungstätigkeit nahelegen, dass der langfristige Trend des Wandels an einen Punkt gelangt ist, an dem das Zeitalter klassischer Unternehmen und Regierungen möglicherweise (bald) vorbei ist.
Ob im Umgang mit niedrigpreisiger Konkurrenz oder mit Wachstumschancen aufgrund von innovativen Produkten oder Übernahmen: Die heutigen Organisationen brauchen mehr Tempo und Flexibilität – in einigen Fällen sogar sehr viel mehr –, damit sie nicht nur mit außergewöhnlichen Ereignissen wie Covid-19 fertig werden, sondern auch mit der unbeständigen Realität unserer Gegenwart und Zukunft. Die Notwendigkeit rascher Anpassungen rückt im weiteren Sinn auch für die ganze Gesellschaft in den Vordergrund. Die Menschheit muss Bedrohungen wie den Klimawandel und die gesicherte Versorgung mit Nahrungsmitteln ebenso in den Griff bekommen wie den Fortschritt hin zu mehr Gleichheit und Wohlstand auf der ganzen Welt.
Einige Unternehmen haben gelernt, den Herausforderungen zu begegnen. Sie identifizieren Trends sehr früh, verändern sich rasch und manövrieren auch bei gefühlten Geschwindigkeiten um etwa 160 km/h noch sehr geschickt. Auf den folgenden Seiten werden wir einige Geschichten von solchen Organisationen erzählen. Wir sind davon überzeugt, dass sie stimmen, weil wir in den meisten Fällen die Entwicklung der Ereignisse persönlich während unserer beratenden Tätigkeit beobachten konnten. Diese führenden Unternehmen sind Vorreiter, von denen alle viel lernen können. Und wir müssen lernen, denn die weitaus meisten Organisationen haben schon zu kämpfen, wenn sie sich bei halbwegs gemäßigten Geschwindigkeiten anpassen sollen.
Die Notwendigkeit der Anpassung ist keineswegs etwas Neues. Schon Benjamin Franklin sagte: »Wenn wir aufhören, uns zu verändern, sind wir am Ende.«2 Neu ist jedoch, wie oft wir uns verändern müssen, wie unglaublich schnell wir uns dabei bewegen sollen und wie komplex und unberechenbar der Kontext ist, in dem wir operieren.
Die Herausforderung: Die Welt wird immer unberechenbarer, unsicherer und unbeständiger
Schon seit Jahrhunderten nimmt das Tempo der Entwicklungen stetig zu. Die Welt verändert sich immer häufiger und auf immer komplexere Weise. Dieser Trend beschleunigt sich nun, da wir aus dem Industriezeitalter ins Informationszeitalter übergegangen sind.
Beispiele für erhöhte Geschwindigkeit und Komplexität lassen sich sehr leicht finden. Die Gesamtzahl der Patente, die vom United States Patent and Trademark Office vergeben wurden, verdoppelte sich von 1960 bis 1990, aber in den letzten drei Jahrzehnten hat sie sich nun vervierfacht. Und während das Telefon 75 Jahre brauchte, um 50 Millionen Anwender zu finden, hatten Mobiltelefone diesen Meilenstein innerhalb von 12 Jahren erreicht und das iPhone sogar schon nach drei Jahren. Eine Studie von IBM aus dem Jahr 2018 gelangte zu der Einschätzung, dass 90 Prozent aller Daten im Internet in den vorhergegangenen zwei Jahren produziert worden waren.
Im Jahr 1965 betrug die durchschnittliche Verweildauer von Unternehmen im S&P-500-Ranking noch 33 Jahre. Heute ist sie um die Hälfte kürzer. Risiken für eine gute Reputation lassen sich zwar schwer quantifizieren, aber sie steigen mit zunehmender Nutzung der sozialen Medien. Es gibt immer mehr laufende Nachrichtenmeldungen und Orte, an denen Mitarbeiter in aller Öffentlichkeit ihr Feedback abgeben können. Glassdoor verzeichnet 32 Millionen individuelle Besucher pro Monat. Diese Beispiele stehen hier repräsentativ für Veränderungen, die sich auch in zahlreichen anderen Zusammenhängen feststellen lassen.
Der zunehmende Wandel um uns herum treibt innerhalb der Organisationen, die uns beschäftigen, die uns mit notwendigen Waren und Dienstleistungen versorgen und die uns regieren, immer umfangreichere Change-Initiativen an. Je nach Branche, Sektor und Region nehmen diese Projekte ein jeweils anderes Gesicht an, aber im Allgemeinen gibt es heute eine viel, viel größere Zahl von Initiativen, die in den Organisationen Veränderungen herbeiführen sollen, als noch vor 30 Jahren. Vor 50 Jahren war bei praktisch keiner Organisation die Rede davon, dass die eigene Kultur verändert werden sollte. Heute dagegen ist das überall der Fall. Die wachsende Zahl der Anstrengungen führt dazu, dass immer mehr Unternehmen eigene Projektmanagementbüros (Project Management Offices, PMO) einrichten.
Abbildung 1.1: World Uncertainty Index
Quelle: Angepasst aus H. Ahir, N. Bloom und H. Furceri (2018) »World Uncertainty Index«, Stanford mimeo. Der WUI errechnet sich aus dem Prozentanteil des Vorkommens des Wortes »uncertain« (»unsicher«) – oder seiner Variationen – in den Länderberichten der Economist Intelligence Unit.
Gemeinsam und in direktem Zusammenhang mit der Erhöhung der Geschwindigkeit und Komplexität der Veränderungen erleben wir in den letzten beiden Jahrzehnten einen steilen Anstieg des Unsicherheitsniveaus. Er ist die direkte Folge komplexer Veränderungen. Die hohe wirtschaftliche und politische Unsicherheit macht es oft schwer, genau festzulegen, welche Initiativen erforderlich sein werden, um die Wettbewerbsfähigkeit erhalten und neue Gelegenheiten ausschöpfen zu können.
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