Staubfänger. Lucie Faulerová
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Und jetzt kommt’s! Schon ist es passiert. Ein Auto hat sie angefahren, so plötzlich, dass sie keine Zeit hatte, erschrocken in Zeitlupe ins Scheinwerferlicht zu schauen. Auch ihr Leben hatte keine Zeit, an ihr vorbeizuziehen. Was würde da auch vorbeiziehen, wohl eher würden sich nur Abfall und Staub langsam durch ihren Kopf wälzen. Aber auch das geschah nicht. Ganz einfach bumm, zack und aus. Und kein Licht am Ende des Tunnels, noch nicht einmal ein schwaches Aufblitzen. Sie lag regungslos da. Und poetisch rann das Blut über ihren cremefarbenen Mantel, und kein Blättchen rührte sich und die Welt blieb nicht stehen und die Menschen blieben nicht stehen und das Auto, das sie angefahren hatte, blieb nicht stehen, und die Erde drehte sich weiter und der Tag ging weiter und es war immer noch genauso ein schöner Tag, genauso ein netter Vormittag, einer dieser Herbsttage, an denen sich der Sommer noch einmal meldet.
Ich erwachte auf dem Sofa, den Kopf eingekeilt zwischen Lehne und Sitz. Ich befreite meinen Kopf und hob ihn mit der Hand etwas an, um kontrollieren zu können, wie spät es ist. Ich hätte mir merken sollen, welche dieser drei Uhren, die ich hier habe (in der Vitrine, auf der Truhe, auf dem Boden), richtig geht, denn morgens kann man leicht desorientiert und verwirrt sein, auch wenn man immer pünktlich aufwacht, wirklich, ohne Ausnahme immer zur selben Uhrzeit, plus minus fünf Minuten, falls ihr nicht verpennt oder überhaupt erst gar nicht einschlaft, und das schon seit einigen Jahren, dann zögert ihr, ob es wirklich so spät ist, wie ihr glaubt, dass es ist. Und ob ihr wirklich dort seid, wo ihr glaubt, dass ihr seid. Und ich glaube, dass ich dort bin, wo ich sein soll, also in meinem Wohnzimmer, lebendig und gesund, Hurra!, und glaube, dass es so spät ist, wie es sein soll, also zwischen sechs Uhr zweiundfünfzig und sechs Uhr siebenundfünfzig, also falls ich nicht verschlafen habe oder überhaupt nicht eingeschlafen und dann aufgewacht bin. Mein steifes Skelett klappert ins Badezimmer, ich vergrabe die Zahnbürste samt Paste in meinem Mund und setze mich aufs Klo und pinkle. Dann steige ich über meine Unterhose auf dem Boden, stelle mich mit einem Fuß auf die Kloschüssel und lockere das Ventil vom Spülkasten. Das ist meine Routine, wenn ich hinunterspülen möchte, was ich manchmal, pfui pfui, ekliges, ekliges Mädchen, nicht mache. Ich ziehe an der Schnur der Spülung, ziehe am Ventil der rinnenden Toilette, springe runter, spucke ins Waschbecken. Tadaa, das strahlende Lächeln einer Schauspielerin in einer Zahnpasta-Reklame.
Und los geht’s, ein neuer Tag zum Kotzen beginnt.
Und ich kaufe mir einen cremefarbenen Mantel.
Bumm, zack und aus.
Klick-klick. Mir fällt kein größeres Vergnügen ein, nach dieser ganztätigen Maskerade, nach diesem Hirn-Ausstopfen mit Plejaden sich öffnender Köpfe, runden bis kantigen, mit spitzem Kinn oder ohne Kinn, mir fällt kein größeres Vergnügen ein, nach dieser mehrstündigen, quälenden Plackerei auf den Brettern meiner Arbeit zwischen Vorgesetzten, Kollegen und Kunden und ihren sich öffnenden Köpfen, klapp klapp, auf den Brettern der Stadt, in der ich lebe, vom Supermarkt über die Straßenbahn bis zur Post, auf den Brettern, die meine Welt bedeuten, ich kenne fast kein größeres Vergnügen als sich nach diesem Tag, nach einem Tag wie jedem anderen, an dem ich schon seit dem Aufwachen die Sekunden bis zu seinem Ende abzähle, die Schuhe von den Füßen zu kicken und ein Kammerspiel zu geben. Also stelle ich mich ins Scheinwerferlicht, in den Kreis, den ein Lichtkegel zeichnet, wo ich von Requisiten umgeben bin. Nach der letzten Inszenierung hat sich niemand die Mühe gemacht, diese Requisiten wegzuräumen. Ich komme hierher, um meine eigene One-Woman-Show aufzuführen, für mich selbst, diesmal auf den Brettern meiner Mikrowelt. Ich verliere mich zwischen den Staubbüscheln, der Lichtkegel wartet schon auf mich, er zeigt direkt auf das imaginäre Zeichen. Dahin, wo mein Hintern hingehört und von wo er sich für den Rest der Aufführung auch kein Stück wegbewegen wird. Genau diese Stelle hier an der Wand ist es, bis hierher reicht der Läufer mit traditionellem, beigem Muster und einem großen Ornament in der Mitte, das die Form einer Raute hat. So ein Läufer, wie ihn die Frauchen von Fabrikarbeitern aus alten Schwarz-Weiß-Filmen in ihren Wohnungen liegen haben. Seine zerzausten Fransen kitzeln mich an den Schenkeln.
Klick-klick. Genau so sitze ich in diesem Moment da, eine Flasche billigen Portwein vor mir und einen Aschenbecher samt einer Schachtel Zigaretten zu den Füßen. In einer Hand halte ich ein Metallfeuerzeug, so eins mit Verschluss, und mit meinem Daumen öffne und schließe ich es ständig, klick-klick, auf-zu. Auf dem Feuerzeug ist ein Totenschädel aus kleinen weißen Steinchen, na, einige Steinchen sind schon rausgefallen. Und der Aschenbecher ist ein kleiner Metallbecher, der in eine Katze aus Keramik eingesetzt ist. Und den Portwein trinke ich für gewöhnlich aus einem Weinglas, einem kleinen und bauchigen, ohne Stiel, aus geschliffenem Glas. Das Feuerzeug habe ich vor einiger Zeit vom Fensterbrett auf dem Klo in der Arbeit mitgenommen, den Aschenbecher habe ich in einem Antiquitätenladen gekauft. Und was das Glas betrifft, da erinnere ich mich nicht mehr, wie das zu mir gekommen ist. Entweder war es ein Geschenk oder ich hab es irgendwo entwendet – das würde vielleicht erklären, warum ich nur ein Stück davon habe. Aber vielleicht habe ich auch eine ansehnliche Geschenkschachtel mit vier Stück von diesen Gläsern bekommen, jedes an seinem abgegrenzten Platz im Karton. Ich stelle mir vor, wie eines von der Küchenzeile fällt und auf den Fliesen zerbricht, ich sehe, wie das zweite durch die Luft fliegt und an der Wand zerschellt, ich sehe, wie mir das dritte aus der Hand rutscht, als ich besoffen auf der Couch einschlafe. Zum Beispiel. Das ist die Geschichte meiner bauchigen Gläser, meiner Amphoren, die spurlos verschwunden sind. Nur eine blieb übrig. Eine überlebte. Die stärkste. Ich hebe die kleine Amphore hoch, diese Heldin, und betrachte sie. Unten im Glas befindet sich eingetrocknete purpurrote Flüssigkeit, weil mein tapferes Trinkgefäß seit dem letzten Abend auf mich wartet. Blöd, ich würde mir gern die halbe Flasche einschenken, die hier auch auf mich wartet, aber dieser modrige Rest hält mich irgendwie davon ab. Hm? Wie wird sich diese junge Frau – obwohl ihr hier wirklich Fantasien vergeudet, da ihr sie euch jünger vorstellt, als sie tatsächlich ist – wohl entscheiden? Schenkt sie sich in das stinkende Glas nach oder steht sie auf und spült es aus? Mein Erzähler hört das betäubende Ticken der Uhr, das den ganzen Raum meines Wohnzimmers einnimmt, ich höre ein lauter werdendes Ge-Ge-Ge-Ge-Getrommel. Das Ticken wird leiser, wie auch das Getrommel, und ich nehme einen Schluck aus der Flasche. C ist richtig. Der Erzähler winkt angewidert ab und verschwindet wieder für eine Weile. Ich höre ba-dam tsss, den Jingle, der in den kleinen Vorstellungen billiger Entertainer immer bei einem gelungenen Sketch zu hören ist. Ich erwarte auch Lachen und Applaus aus dem Zuschauerraum. Aber es war ein schlechter Sketch. Also: klirr, wumms und aus. Und dann klick-klick.
Ich habe meine üblichen Alltagsgegenstände, die ich benutze; Sachen, die ich trage, Nahrungsmittel und Getränke, die ich esse und trinke. Ich würde sie nicht Lieblings-, sondern nur Alltagssachen nennen. Um zu Lieblingssachen zu werden, müsste ihnen ein Prozess des Beliebtwerdens vorausgehen, ein Prozess des Vergleichens, bei dem sie sich ihre Vorrangstellung in jener Beliebtheit erkämpft hätten. Aber das mache ich normalerweise mit den Alltagssachen nicht. Ich greife nach dem Ersten/Billigsten/ meiner faulen Hand am nächsten, und dem bin ich dann eine gewisse Zeit treu, solange ich nicht auf etwas anderes treffe, das im gegebenen Moment das Erste/Billigste/gerade zur Hand ist. Gegenwärtig sind das also der billige Portwein, die Mentholzigaretten, das Metallfeuerzeug mit dem verblassten Totenschädel, das bauchige Trinkgefäß aus geschliffenem Glas, der Katzenaschenbecher. Und die Lampe mit dem roten Lampenschirm, die garantiert aus irgendeinem Nazi-Bordell stammt, zu der ich mich gerade aufrichte, um sie anzuknipsen, denn auf die Stadt sinkt Dunkelheit, wie mein Erzähler sagt, und sie drängt sich durch die Fenster zu mir herein.
Mein Telefon klingelt gedämpft. Vermutlich ist es in der Manteltasche. Es ist meine Schwester, es zahlt sich nicht aus, aufzustehen und sich davon zu überzeugen. Es ist meine Schwester, es zahlt sich nicht aus, aufzustehen und das Gespräch anzunehmen. Für heute hab ich genug vom Telefonieren. Wie jeden Tag. Ich bin nämlich Callcenteragentin. Schon seit etwa vier Jahren. Die Haltbarkeit von Callcenteragentinnen beträgt angeblich drei Jahre, ich bin also schon drüber.
Mit einem Fuß schiebe ich den Aschenbecher