Der Untertan. Heinrich Mann
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Am Morgen freilich war er erstaunt und befremdet, sich nicht im Bett zu finden. Sein großes Erlebnis fiel ihm ein, ein süßer Stoß ging durch sein Blut, bis zum Herzen. Aber auch der Verdacht kam ihm, daß er sich peinliche Übertreibungen habe zuschulden kommen lassen. Er las den Brief wieder durch: das war alles recht schön, und es konnte einen auch wirklich aus der Fassung bringen, wenn man auf einmal mit so einem großartigen Mädel ein Verhältnis hatte. Wäre sie jetzt nur dagewesen, er hätte zärtlich sein wollen! Aber den Brief schickte man doch besser nicht ab. Es war unvorsichtig in jeder Beziehung. Am Ende fing Vater Göppel ihn ab ... Diederich verschloß den Brief im Schreibtisch. ›An das Essen hab ich gestern überhaupt nicht gedacht!‹ Er ließ sich ein ausgiebiges Frühstück bringen. ›Und rauchen wollte ich nicht, damit ihr Geruch nicht verginge. Das ist doch Blödsinn. So darf man nicht sein.‹ Er zündete eine Zigarre an und ging ins Laboratorium. Was er auf dem Herzen hatte, beschloß er statt in Worte – denn so hohe Worte waren unmännlich und unbequem – lieber in Musik auszuströmen. Er mietete ein Klavier und versuchte sich, plötzlich mit viel mehr Glück als in der Klavierstunde, an Schubert und Beethoven.
Am Sonntag, wie er bei Goppels klingelte, machte Agnes selbst ihm auf. »Das Mädchen kann nicht vom Herd fort«, sagte sie; aber den wahren Grund sagte ihr Blick.
Aus Ratlosigkeit senkte Diederich die Augen auf das silberne Armband, womit sie klapperte, als sollte er hinsehen.
»Kennst du es nicht?« flüsterte Agnes. Er ward rot.
»Das von Mahlmann?«
»Das von dir! Ich trage es zum erstenmal.«
Rasch und heiß drückte sie ihm die Hand, dann ging die Tür zum Berliner Zimmer auf. Herr Göppel wandte sich um. »Na, da ist wohl unser Ausreißer?« Aber kaum erblickte er Diederich, änderte sich seine Miene, er bereute seine Vertraulichkeit.
»Ich hätte Sie weiß Gott nicht wiedererkannt, Herr Heßling!«
Diederich sah zu Agnes hinüber, wie um ihr zu sagen: Siehst du? Der merkt es, daß ich kein dummer Junge mehr bin.
»Bei Ihnen ist ja alles unverändert«, stellte Diederich fest und begrüßte Herrn Göppels Schwestern und Schwager. In Wahrheit aber fand er alle beträchtlich gealtert, besonders Herrn Göppel, der sich weniger munter benahm und dem ein kummervolles Fett von den Wangen hing. Die Kinder waren nun größer, und irgendwo im Zimmer schien eine Person zu fehlen.
»Ja, ja«, so schloß Herr Göppel die einleitende Unterhaltung, »die Zeit vergeht, aber gute Freunde finden sich immer wieder.«
›Wenn du wüßtest, wie‹, dachte Diederich verlegen und mit Geringschätzung, indes man zu Tisch ging. Beim Kalbsbraten fiel ihm endlich ein, wer damals ihm gegenüber gesessen hatte. Es war die Tante, die ihn so hochtrabend gefragt hatte, was er denn studiere, und die nicht gewußt hatte, daß Chemie etwas anderes war als Physik. Agnes, die er zu seiner Rechten hatte, erklärte ihm, daß diese Tante schon seit zwei Jahren tot sei. Diederich murmelte sein Beileid, im stillen aber sagte er sich: ›Die quatscht also auch nicht mehr.‹ Ihm kam es vor, als ob hier alle bestraft und niedergedrückt seien, ihn selbst nur hatte das Schicksal, seinem Wert entsprechend, erhöht. Und er streifte Agnes, von oben herab, mit dem Blick des Besitzers.
Die süße Speise ließ auf sich warten, gerade wie damals. Agnes wandte unruhig den Kopf nach der Tür, Diederich sah ihre schönen blonden Augen verdunkelt, als sei etwas Ernstes geschehen. Er hatte plötzlich tiefes Mitgefühl mit ihr, eine große Zärtlichkeit. Er stand auf und rief aus der Tür:
»Marie! Der Krehm!«
Wie er zurückkam, trank Herr Göppel ihm zu. »Das haben Sie früher auch schon gemacht. Sie sind doch hier wie 's Kind im Hause. Nicht, Agnes?« Agnes dankte Diederich mit einem Blick, der sein ganzes Herz aufrührte. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht feuchte Augen zu bekommen. Wie wohlwollend die Verwandten ihm zulächelten! Der Schwager stieß mit ihm an. Was für gute Menschen! Und Agnes, die süße Agnes, liebte ihn! Er verdiente so viel nicht! Das Gewissen schlug ihm laut, er nahm sich dunkel vor, nachher mit Herrn Göppel zu sprechen.
Leider fing Herr Göppel nach dem Essen wieder von den Krawallen an. Wenn wir endlich den Druck der Bismarckschen Kürassierstiefel los waren, brauchte man die Arbeiter nun nicht mit Dicktun in Reden zu reizen. Der junge Mann (so nannte Herr Göppel den Kaiser!) redet uns noch die Revolution an den Hals ... Diederich sah sich veranlaßt, im Namen der Jugend, die fest und treu zu ihrem herrlichen jungen Kaiser stehe, solche Nörgeleien auf das schärfste zurückzuweisen. Seine Majestät hatten es selbst gesagt: »Diejenigen, welche mir behilflich sein wollen, herzlich willkommen. Die sich mir entgegenstellen, zerschmettere ich.« Dabei versuchte Diederich zu blitzen. Herr Göppel erklärte, er warte es ab.
»In dieser harten Zeit«, fügte Diederich hinzu, »muß jeder seinen Mann stehen.« Und er setzte sich in Positur vor Agnes, die ihn bewunderte.
»Wieso, harte Zeit?« sagte Herr Göppel. »Sie ist doch nur hart, wenn wir uns gegenseitig das Leben schwermachen. Ich hab mich mit meinen Arbeitern noch immer vertragen.« Diederich zeigte sich entschlossen, daheim in seinem Betrieb eine ganz andere Zucht einzuführen. Sozialdemokraten wurden nicht mehr geduldet, und sonntags gingen die Leute zur Kirche! – Das auch noch? meinte Herr Göppel. Das könne er von seinen Leuten nicht verlangen, wenn er selbst doch bloß am Karfreitag gehe. »Soll ich sie beschwindeln? Christentum ist gut; aber was der Pastor alles redet, glaubt doch kein Mensch mehr.« Da sah man Diederichs Miene hochüberlegen werden.
»Mein lieber Herr Göppel, ich kann Ihnen nur sagen: Was die Herren da oben und besonders mein verehrter Freund, der Assessor von Barnim, zu glauben für richtig halten, das glaub ich auch – unbesehen. Das kann ich Ihnen nur sagen.«
Der Schwager, der Beamter war, schlug sich plötzlich auf Diederichs Seite. Herr Göppel hatte schon einen roten Kopf, Agnes trat mit dem Kaffee dazwischen. »Na, schmecken Ihnen meine Zigarren?« Herr Göppel klopfte Diederich aufs Knie. »Sehen Sie wohl, im Menschlichen sind wir einig.«
Diederich dachte: ›Da ich sozusagen zur Familie gehöre.‹
Er ließ von seiner strammen Haltung einiges nach, es ward noch sehr gemütlich. Herr Göppel wollte wissen, wann Diederich »fertig« werde und Doktor sei, er begriff nicht, daß eine chemische Arbeit zwei Jahre und länger brauche. Diederich verbreitete sich, in Ausdrücken, die niemand verstand, über die Schwierigkeiten, zu einer Lösung zu gelangen. Er hatte die Empfindung, Herr Göppel warte zu einem bestimmten Zweck auf seine Promovierung. Auch Agnes schien es zu fühlen, denn sie griff ein und lenkte das Gespräch ab. Als Diederich sich verabschiedet hatte, ging sie mit hinaus und flüsterte ihm zu: »Morgen um drei bei dir.«
Vor jäher Freude griff er nach ihr und küßte sie, zwischen den Türen, während gleich daneben das Mädchen mit dem Geschirr rasselte. Sie fragte traurig: »Denkst du denn gar nicht daran, was mir passiert, wenn jetzt jemand kommt?« Er war betroffen und verlangte als Zeichen ihrer Verzeihung noch einen Kuß. Sie gab ihn.
Um drei Uhr pflegte Diederich aus dem Café ins Laboratorium zurückzukehren. Statt dessen