Der Untertan. Heinrich Mann

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Der Untertan - Heinrich Mann

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Aber ich wagte es nicht. Hätte ich denn auch die Menschen auf den Rücken legen können? Alle haben solche Augen, und manchmal –«, sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, »manchmal sogar du.«

      Der Hals war ihm zugeschnürt, er tastete über ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. »Agnes! Süße Agnes, du weißt gar nicht, wie ich dich liebhabe ... Ich hab Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab ich mich nach dir gesehnt, aber du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut ...« Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschrieben hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtisch lag. Sie hatte sich aufgerichtet und hörte ihm zu, entzückt, die Lippen geöffnet. Sie jubelte leise: »Ich wußte es, so bist du, du bist wie ich!«

      »Wir gehören zusammen!« sagte Diederich und preßte sie an sich; aber er war erschrocken über seinen Ausruf. ›Jetzt wartet sie‹, dachte er, ›jetzt soll ich sprechen.‹ Er wollte es, aber er fühlte sich gelähmt. Der Druck seiner Arme auf ihrem Rücken ward immer kraftloser ... Sie bewegte sich: er wußte, nun wartete sie nicht mehr. Und sie lösten sich voneinander, ohne sich anzusehen. Diederich schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Sie fragte nicht, weshalb; sie strich ihm tröstend über das Haar. Das währte lange.

      Über ihn hinweg, ins Leere, sagte Agnes: »Hab ich denn geglaubt, daß es dauern würde? Es mußte schlimm enden, weil es so schön war.«

      Er fuhr auf, verzweifelt. »Es ist doch nicht aus!« Sie fragte: »Glaubst du an das Glück?«

      »Wenn ich dich verlieren soll, nicht mehr!«

      Sie murmelte: »Du wirst fortgehen, hinaus in das Leben, und mich vergessen.«

      »Lieber sterben!« – und er zog sie an sich. Sie flüsterte an seiner Wange: »Sieh, wie breit hier das Wasser ist, ein See. Unser Boot hat sich von selbst losgemacht und uns hinausgeführt. Weißt du noch, jenes Bild? Und der See, auf dem wir schon einmal im Traum fuhren? Wohin wohl?« Und noch leiser: »Wohin mit uns?«

      Er antwortete nicht mehr. Ganz umschlungen und die Lippen aufeinander, senkten sie sich rückwärts immer tiefer über das Wasser. Drängte sie ihn? Zog er sie? Niemals waren sie so sehr eins gewesen. Diederich fühlte: nun war es gut. Er war, mit Agnes zu leben, nicht edel genug gewesen, nicht gläubig, nicht tapfer genug. Jetzt hatte er sie eingeholt, nun war es gut.

      Plötzlich, ein Stoß: sie schnellten in die Höhe. Diederich hatte so viel Kraft gebraucht, daß Agnes von ihm fort und zu Boden fiel. Er strich sich über die Stirn. »Was haben wir denn da –« Noch kalt vom Schrecken und als sei er beleidigt, sah er weg von ihr. »So unvorsichtig darf man nicht sein beim Bootfahren.« Er ließ sie allein aufstehen, griff sogleich nach den Rudern und arbeitete sich rasch zurück. Agnes hielt das Gesicht nach dem Ufer gewendet. Einmal wollte sie zu ihm hinsehen; aber sein Blick traf sie so mißtrauisch und hart, daß sie zusammenfuhr.

      In der sinkenden Dämmerung gingen sie, immer schneller, die Landstraße zurück. Zuletzt liefen sie fast. Und erst als es dunkel genug war, daß sie ihre Gesichter nicht mehr deutlich erkannten, sprachen sie. Morgen früh kam Herr Göppel vielleicht heim. Agnes mußte heim ... Wie sie beim Wirtshaus ankamen, pfiff in der Ferne schon der Zug. »Nicht mal mehr essen kann man!« sagte Diederich mit künstlicher Unzufriedenheit. Hals über Kopf die Sachen holen, zahlen und fort. Der Zug fuhr ab, kaum daß sie drin waren. Ein Glück, daß sie Atem zu schöpfen und die eiligen Geschäfte der letzten Viertelstunde zu besprechen hatten. Das letzte Wort darüber war gefallen, und nun saß jeder da, allein bei trüber Lampe und betäubt wie nach einem großen Mißerfolg. Das dunkle Land da draußen, hatte es einmal gelockt und Gutes versprochen? Das sollte erst gestern gewesen sein? Man fand nicht zurück. Kamen nicht endlich die Lichter der Stadt und befreiten einen?

      Bei der Ankunft waren sie darüber einig, daß es sich nicht verlohne, in denselben Wagen zu steigen. Diederich nahm die Trambahn. Hände und Augen streiften sich nur.

      »Uff!« machte Diederich, als er allein war. »Das wäre erledigt.« Er sagte sich: ›Es hätte ebensogut schiefgehen können.‹ Und mit Empörung: ›So eine hysterische Person!‹ Sich selbst würde sie sicher am Boot festgehalten haben. Er hätte das Bad allein nehmen müssen. Auf den ganzen Trick war sie doch nur verfallen, weil sie durchaus geheiratet werden wollte! ›Die Weiber sind zu gerissen, und sie haben keine Hemmungen, da kommt unsereiner nun mal nicht mit. Diesmal hat sie mich, weiß Gott, noch ärger an der Nase herumgeführt als damals mit Mahlmann. Na, mir soll es eine Lehre für das Leben sein. Nun aber Schluß!‹ Und festen Schrittes ging er zu den Neuteutonen. Fortan verbrachte er jeden Abend dort, und am Tage büffelte er für das mündliche Examen, aber zur Vorsicht nicht zu Hause, sondern im Laboratorium. Wenn er dann heimkam, ward ihm das Steigen der Stockwerke schwer, er mußte sich gestehen, daß er Herzklopfen habe. Zögernd öffnete er die Zimmertür: – nichts; und nachdem ihm anfangs leichter geworden war, kam es schließlich doch jedesmal dazu, daß er die Wirtin fragte, ob jemand dagewesen sei. Niemand war dagewesen.

      Nach vierzehn Tagen aber kam ein Brief. Er hatte ihn geöffnet, bevor er es bedachte. Dann wollte er ihn ungelesen in den Schreibtisch werfen – zog ihn aber wieder hervor und hielt ihn weit fort vom Gesicht. Hastig, mit mißtrauischen Augen, griff er hie und da eine Zeile heraus. »Ich bin so unglücklich ...« – »Kennen wir!« antwortete Diederich. »Ich wage mich nicht zu dir ...« – »Dein Glück!« – »Es ist schrecklich, daß wir uns fremd geworden sind ...« – »Wenigstens siehst du es ein.« – »Verzeih mir, was geschehen ist, oder ist nichts geschehen? ...« – »Gerade genug!« – »Ich kann nicht weiterleben ...« – »Fängst du schon wieder an?« Und er schleuderte das Blatt endgültig in die Lade, zu jenem anderen, das er in einer zuchtlosen Nacht mit Überschwenglichkeiten bedeckt und zum Glück nicht abgeschickt hatte.

      Eine Woche später aber, wie er in der Nacht heimkam, hörte er hinter sich Schritte, die besonders klangen. Er fuhr herum: eine Gestalt blieb stehen, die Hände ein wenig erhoben und leer vor sich hingehalten. Noch während er das Haustor aufschloß und eintrat, sah er sie im Halbdunkel dastehen. Im Zimmer machte er kein Licht. Er schämte sich, indes sie aus dem Dunkel hinaufspähte, das Zimmer zu beleuchten, das ihr gehört hatte. Es regnete. Wie viele Stunden hatte sie gewartet? Gewiß stand sie noch immer dort, mit ihrer letzten Hoffnung. Das war nicht auszuhalten! Er wollte das Fenster aufreißen – und wich zurück. Einmal fand er sich plötzlich auf der Treppe, mit dem Hausschlüssel in der Hand. Grade gelang es ihm noch, umzukehren. Darauf schloß er ab und zog sich aus. ›Mehr Haltung, mein Lieber!‹ Denn diesmal wäre man aus der Sache nicht mehr leicht herausgekommen. Das Mädel war zweifellos zu bedauern, aber schließlich hatte sie es gewollt. ›Vor allem habe ich Pflichten gegen mich selbst.‹ – Am Morgen, schlecht ausgeschlafen, nahm er es ihr sogar sehr übel, daß sie noch einmal versucht hatte, ihn aus seiner Bahn zu reißen. Jetzt, da sie wußte, daß die Prüfung bevorstand! Solche Gewissenlosigkeit sah ihr ähnlich. Und durch die nächtliche Szene, diese Bettlerrolle im Regen, hatte ihre Gestalt nachträglich etwas Verdächtiges und Unheimliches bekommen. Er betrachtete sie als endgültig gesunken. ›Auf keinen Fall mehr das geringste!‹ beteuerte er sich, und er beschloß, noch für den kurzen Rest seines Aufenthaltes die Wohnung zu wechseln: ›Selbst wenn es mit einem Geldopfer verbunden sein sollte.‹ Glücklicherweise suchte ein Kollege grade ein Zimmer; Diederich verlor nichts und zog sofort um, weit hinauf nach dem Norden. Kurz darauf bestand er sein Examen. Die Neuteutonia feierte ihn mit einem Frühschoppen, der bis gegen Abend dauerte. Zu Hause ward ihm gesagt, daß in seinem Zimmer ein Herr auf ihn warte. ›Es wird Wiebel sein‹, dachte Diederich, ›er muß mir doch Glück wünschen.‹ Und von Hoffnung geschwellt: ›Vielleicht ist es der Assessor von Barnim?‹ Er öffnete, und er prallte zurück. Denn da stand Herr Göppel.

      Auch er fand nicht gleich Worte. »Nanu, im Frack?« sagte er dann, und zögernd: »Waren Sie vielleicht bei mir?«

      »Nein«, sagte Diederich und erschrak aufs neue. »Ich habe nur

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