Der Kopf. Heinrich Mann

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Der Kopf - Heinrich Mann

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das hiesige, es verdirbt den Preis. Es muß aus dem Land, ich fahre es hinüber.«

      Der Sohn schwieg hierauf lange im Dunkeln. Als er dies ganz erfaßt hatte: »Sie helfen das Brot zu verteuern, Sie, ein Sozialdemokrat?«

      »Grade darum. Ihr Vater kann zu so etwas nur Einen brauchen, der noch mehr auf dem Kerbholz hat. Man will doch wieder zurück dürfen. Ich rede nicht. Sie können beruhigt sein, junger Herr.«

      »Ich bin es. Aber Sie müssen allein hinausfahren. Ich gehe in mein Boot zurück und lege an.«

      Von unten fragte Terra noch: »Was machen Sie, wenn die Zollwache Sie anhält?«

      Der Beauftragte seines Vaters rief herab: »Dann kehre ich um und versenke alles.«

      Darauf griff der Sohn noch schneller aus. Er fuhr auf den Meeresstrand auf, und durch das wehende Gras ging er den wohlbekannten Weg in das Dorf, nach dem Wirtshaus, das ihn zu jeder Zeit des Lebens schon aufgenommen hatte, als lachendes Kind mit den freundlichen Eltern, als übermütigen Schüler unter vielen, nicht weniger graden Herzen, als Herangewachsenen mit Seinesgleichen, denen es nicht fehlen konnte. Mißverständnisse, dies Alles. Niemals war so das Leben gewesen. So war nur die Unwissenheit, die besonnte Oberfläche. Eines Tages erfuhr man eine Wahrheit, sie war ungeahnt und so furchtbar, daß Dir für immer Spiel und Lachen verging. Andere Wahrheiten gliedern sich an, die Kette wird schwerer und schwerer. Du trägst sie durch das freieste Leben als Sträfling.

      In dem schlechten Zimmer unter der niederen Decke stand der Sohn und durchdachte die Miene seines Vaters, seine Miene in großen Augenblicken, seinen Ausdruck, wenn er mit sich allein war, sein Gesicht bei Nichtigkeiten, die, wer weiß warum, ewig unvergeßlich sind. Die Decke war geschwärzt von der rauchenden Lampe. Jetzt prasselte Regen an das Fenster. Das Meer dort hinten hub Schläge zu rollen an. Das Haus in Wetter und Weite bebte wie ein Schiff. Der Sohn suchte, atemlos und verzerrten Gesichtes, nach dem Gesicht eines schlechten Menschen, der sollte sein Vater sein. Er fand es nicht. Dafür vernahm er in seinem Herzen jenen Tonfall von heute Mittag, der wohlwollend, kundig und sogar schüchtern klang. Das war der Freund des Verbrechers Ermelin? Dann wissen wir um unsere eigenen Taten nicht, und eben dies ist das Hoffnungslose.

      Was weiß wohl die Mutter, vornehm und kindlich sicher. Aber jener junge Leutnant, den der Sohn, noch halbwüchsig, einst durch alle Räume jagte, bis er ihn im Musikzimmer der Mutter aus einem Vorhang zog? »Ach! ich glaubte, Dein Vater sei es,« sagte der Leutnant und lachte erleichtert.

      Das Haus erbebte, den Sohn kam ein Schauder an. Er selbst hatte mit heiterem Mund seine Eltern bestohlen, um zu Weibern zu gehen oder auch um ein Vergnügen, von dem man hätte sprechen können. Er hatte Freunde verleugnet. Feige Handlungen und unreine Beweggründe waren sein menschlicher Gewinn, noch bevor er einundzwanzig Jahre alt ward.

      Auf einem Strohstuhl über sich selbst gebeugt, ließ er die Gesichte heraufsteigen. Unheil und kein Ende, auch die Schwester erschien: in verdächtiger Gasse am Arm seines eigenen Freundes, heimlich fortgetrieben unter fallendem Regen. Das Lachen der Frau von drüben! Er weigerte sich nicht länger, es zu verstehen ... Keine der kindlich verehrten Gestalten stand noch fest – und keiner der alten Glaubenssätze! Mit eben dem Freunde, der ihn jetzt verriet, hatte er an stolzen Tagen und in erhitzten Nächten bezweifelt, was irgend Gesetz war. Entfesselter Geist, erhaben über Sitte, Bekenntnis, Menschenfurcht, hingeflogen, wo nicht mehr Welt und auch nicht Gott war, – um jählings niederzustürzen vor die Füße einer Frau.

      Er fuhr auf, ihm brannte das Gesicht. Die Frau, die er liebte, um derenwillen er floh. Alles abbrach. Alles wagte! Kommt sie schon? Die verabredete Stunde! Aber daß sie nur jetzt mich nicht ertappt! Jetzt, da ich die Beute meiner Zweifel bin. Erhabenheit des unbeugsamen Geistes, Empörung noch unerbittlicher Moral – sollten sie nichts weiter gewesen sein, als Fallstricke der Sinne? Flucht! Aufruhr! – aber wann, in welchem Zeitpunkt? Als mein Vater mir den abenteuerlichen Verkehr verbot ... So ist mein Aufruhr Vermessenheit und Lüge. Im Grunde bin ich wie Jedermann. Ich würde zu allem geschwiegen, alles leicht genommen haben, ließ man mir nur die Begehrte. Sie soll nicht kommen, ich schäme mich.

      Wie aber? Es wird Tag? Er riß das Fenster auf. Rauhe Stille; erstes Grauen ohne Hoffnung auf Sonne. Wolkenbänke tief auf glanzlosem Meer. Atmen – wir atmen doch. Und hab' ich mich belogen, jetzt weiß ich die Wahrheit, auch diese letzte, daß ich ein schlechter Kerl bin. Ich fliehe mit einer schlechten Frau, so ist es, so bleibt es, ich will es nicht anders. Daß sie noch nicht kam, das hat sie gut gemacht. Jetzt mag sie kommen!

      Er ging zu der Haltestelle der Bahn. Sie saß dann also in dem Frühzug, er sollte gleich einsteigen zu ihr, und fort, aus der Nacht des Erkennens und der Abschiede geradenwegs hinein in das Leben, wie es ist. Nur kein Nichtsehen mehr, keine betrügerische Wohlanständigkeit! Mit der Abenteurerin verbündet, ein großer Mann werden, ein Lump oder ein Tropf – »nur wissen um mich! Die einfachste Menschenwürde verlangt die Befreiung meines Gewissens. Man soll mir in das Gesicht schlagen, nur ich selbst will es nicht tun müssen.«

      Der Zug, – da bin ich! Aufgerissen die Türen, sie saß hinter keiner. Er trat zurück, betäubt, ganz ratlos. Es war doch hart, sie hätte kommen sollen. Sie verließ ihn genau zu der Stunde, da alles ihn verließ. Jetzt heißt es, ganz allein mit Deinem aufgeklärten Gewissen hinausfahren in das Leben, das noch soeben Reiz und Zauber gehabt hatte durch sie. Auf einmal war es fahl und leer, wie hinter dem wegfahrenden Zug die morgendliche Meeresfläche. Ziehe Deinen Kahn vom Strand, steuere hinaus, kehre nie wieder! Du wirst vom Leben nur den Tod gekannt haben, aber vielleicht hat Mangolf recht, und er ist der bessere Teil ... Auch von der anderen Seite kam ein Zug, Terra stieg ein, ohne zu überlegen, Flüchtling, auch wenn er heimkehrte.

      Am Bahnhof sah er, es war erst sieben. Er ging nach Hause, das Fenster im Zimmer seiner Schwester stand schon offen; es zog ihn zu ihr, er eilte hinauf, er riß die Tür auf, – da fuhr er zurück.

      Die Wut verzerrte sein Gesicht so ungeheuerlich, daß die Schwester, schon bereit, gegen ihn vorzugehen, ergriffen stillhielt. Der Freund, abwechselnd bleich und rot, rang mit der Scham, dem Hochmut, der Lust zu schaden. Das Paar suchte sich nicht, als der Bruder nun dastand; es trennte sich.

      Terra, mit wildem Hohn: »Die Lage berechtigt mich, zu fragen, ob Du Lea zu heiraten gedenkst.«

      Worauf Mangolf: »Ich befinde mich in Übereinstimmung mit Lea, wenn ich Nein sage.« Und die Schwester nickte dazu trotzig.

      Terra zog erst jetzt die Tür zu. Er trat vor, als nähme er einen Anlauf; mit Blicken von ihm zu ihr schien er auszumachen, wen von Beiden er anspringe. Da er sich nicht entschloß, sagte Mangolf ruhig, fast demütig: »Wäre es nicht vorzuziehen, daß ich gehe? Ich bin sicher, mit Deiner Schwester verständigst Du Dich dann alsbald.«

      Terra knirschte, noch immer in geduckter Haltung. »Meine Zustimmung zu Deinem Abgang bekommst Du nur gegen Dein feierliches Ehrenwort, daß dies im ganzen Leben unsere letzte Begegnung gewesen sein soll.«

      »Das dürfen wir nicht hoffen. Wir dürfen es auch nicht wünschen.«

      »Ich erflehe es vom Schicksal.« Terra schlug sich auf die Brust. Mangolf, traurig und ironisch:

      »Ich fühle, wie das Schicksal nein sagt. Lebt Beide wohl!«

      Die Schwester schloß das Fenster, sie blieb davor stehen. Da sie ihn aber keuchen hörte, als liege er und sterbe, erschrak sie und sah hin. Er stand, die Stirn am Kleiderschrank, und hielt sich die Schläfen. Als er ihre Stimme hörte, »Klaus«, fuhr er herum wie gestochen. »Achte wenigstens meine Erniedrigung!« Scharf schreiend: »Lauf ihm nach! Bezähme Deinen namenlosen Drang nur nicht! Wirf Dich ihm schnell noch einmal vor die Räder, bevor der Feigling Dir durchgeht!«

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