Lyrische Prosa. Rainer Maria Rilke

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Lyrische Prosa - Rainer Maria Rilke

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den klaffenden Lippen ein. Aber es füllte sich nur die Mundhöhle und dann floss der dickflüssige rote Trank der Toten über das bleiche, spitzige Kinn. Da schien es ihm es wäre Blut! Er warf die Flasche von sich. Hat er auch dieses Weib gemordet? Sein Weib? – Ein Schauer schüttelte die nervigen Glieder.

      Er glitt vom Bettrand herab – und sank vor einem alten verblichenen Christusbilde – dem einzigen im Zimmer – auf die Knie. Er hob die breiten, braunen Hände hoch über den Kopf. Seine Lippen zitterten. Vielleicht betete er. Aber laut schrie er nur: Jesus Maria!

      Es war indessen ganz Tag geworden. Er erhob sich. Er wankte ein paar Mal in der Stube umher; dann trat er an das Fenster. Graue, leichte Wolken deckten den Himmel, da und dort aber blickte ein Stückchen blasses Blau hervor. Er wandte sich jäh um, trat an den Herd. Dort lag noch das Messer, jenes zweite. Er setzte sich auf den Rand der Platte. Die Augen weit in die Ferne gerichtet, leer und gleichgültig; er fasste die Klinge. Langsam durchschnitt er die Pulsadern. Keine Muskel zuckte in seinem fahlen Antlitz. Dann bemerkte er das Blut. Das Blut, das von seinen Handgelenken niederrann. Er fürchtete dieses Blut. Er wollte ihm entfliehn. Er sprang auf. Aber schon an dem Bette seines Weibes sank er kraftlos nieder. Quer über sie lag er. Langsam aber reichlich quoll das rote Blut unter den Hemdärmeln hervor und versickerte in dem rohen Leinen des Bettuches.

      Durchs Fenster aber blickte die kalte Märzsonne. Ein Strahl verirrte sich in die Stube und spielte wie ein glückseliges Lächeln um die Lippen der Toten. Im Treppenhause dröhnten schwere Schritte und klirrten Säbel.

      Aus dem Hofe aber scholl leise Mariechens helle Kinderstimme, die das heute so früh gestörte Brüderchen einwiegte:

      Schlaf, schlaf fein sacht...

      Schutzenglein wacht!...

      Das Eine

      Die Kleine war eingeschlafen.

      »Endlich« seufzte die junge, blasse Frau, die zuseiten des garnvergitterten Kinderbettchens saß. Sie faltete die Hände überm Knie und schaute starr mit den großen, grauen Augen ins gelbe Lampenlicht. Es war ganz still in der Stube. Um so lauter tönten des schlummernden Kindes regelmäßige Atemzüge. Einschläfernd – dachte die Mutter und senkte für einen Augenblick die breiten Lider. Dann hob sie den Blick und sah im Zimmer umher. Es war vornehm, aber nicht wohnlich, die hohen Möbel mit den massigen Füßen und verzierten Platten schienen zu neu, die Fenstervorhänge zu kostbar und reich. Alles war kalt, fremd, förmlich; und sie seufzte wieder.

      Wie still es um sie war! Das Kindermädchen hatte sie ins Gesindezimmer hinabgeschickt, ihr Gemahl war noch nicht zuhause, und draußen auf der Straße regte sich nichts. Sie waren ja auch mehr denn eine Stunde von der Stadt entfernt und – was hätte ihr denn selbst die Stadt geboten? Hier im einsamen Mühlhof – so nannten die Leute die Villa des Mühlenbesitzers, die den Arbeiterhäusern genüber am Rande des grünen, schlammigen Teiches lag, – hier war es ja so ganz recht für sie.

      Sie sann nach wie sie sich heraus gefreut hatte ... damals, ja damals ...

      Das Kindermädchen trat ein.

      Kurz schickte sie sie wieder weg.

      Ja, sie wollte allein sein; sie wollte einmal nachdenken, nachdenken...

      Die Magd ging.

      Clara stützte das Kinn in die Hand. Ihre Gedanken flogen weit, weit zurück. Bis in die erste Kindheit. Vater, Mutter sah sie; den Vater mit den harten Zügen, den umfurchten Lippen, den tiefen von zahllosen Fältchen umgebenen, farblosen Blick; und die Mutter das gute, kleine, herzliche Wesen mit der ewig zitternden Stimme und den träumerischen tiefbraunen Augen ... beide – tot. Ihre Gedanken wurden trübe: sie sah den Leichenwagen und die schwarzen Männer, und spürte den dumpfig-feuchten Blumenduft und Weihrauch. Sie schauerte.

      ... erst die Mutter, kurz darauf der alte, gebeugte, strenge Mann ...

      Das Kind regte sich im Bettchen. Die Mutter aber vernahm es nicht. Wie funkelnde Turmspitzen aus dem Nebel, so glänzten Ereignisse aus der Kindheit hell zu ihr herüber: der erste Christbaum. Wie lange hatte man sie darauf vorbereitet, was ein Fest das würde! Sie war sehr fleißig in der Schule – des Christbaums wegen, sie nähte und strickte sich die kleinen Finger halb wund, und las in der Fibel, bis der Vater ärgerlich über das viele, verbrannte Öl die Lampe abdrehte. Der Christbaum. Das war der Inhalt ihrer Tage, der Traum ihrer Nächte. Dann kams. Aufgescheuert war die gute Stube mit dem spiegelglatten Fußboden und den steifbeinigen, ernsten Stühlen; und mitten drin das Bäumchen mit Lichtern und Süßigkeiten ... ja, das war eine Freude! – Aber als man sie dann nach zwei Stunden zubette brachte, da lag es ihr drückend auf ihrer kleinen Brust. Weinen hätte sie mögen. Sie fühlte, dass etwas, etwas doch dabei gefehlt hatte, – sie wusste nicht was... Aber eine Leere war im Herzen zurückgeblieben, – und in dieser Leere, dieser Lücke kauerte es – wie eine Enttäuschung.

      Sie dachte weiter; so war es bei jedem Spiel, bei jeder Freude gewesen. Lange vorher schilderten Vater und Mutter ihr die Wonnen des bevorstehenden Ereignisses. Wie gut sie lauschte, wie das Herz ihr schlug vor seliger Erwartung. Und endlich wars dann gekommen und hatte nur Wehmut in Bitterkeit in ihr zu erregen vermocht, nach einem jähen, grellen Aufflackern von toller jubelnder Freude.

      Der Kopf schmerzte sie. Sie hob ihn langsam empor, und löste leise den Haarknoten. Dabei bemerkte sie ihr Bild dort drüben im Spiegel. Sie sah das üppige, braune Haar, die großen Augen... und da fiel ihr ein, dass die so ernst seien. Und sie lächelte. Aber das sah sehr müde aus. Da hatte sie einmal doch anders lächeln können. Der Abend kam ihr in den Sinn vor ihrem ersten Balle.

      Damals! »Wir bringen das Opfer, mein Kind«, hatte der Vater gesagt, »obwohl es uns nicht gar leicht fällt. Wir bringen dir das Opfer.« – Opfer! – Und sie hatte gejubelt. Das leichte Tüllkleid mit den einfachen Blumen schien ihr wie die goldene Robe der Märchenprinzessin. Vor den Spiegel stand sie – stundenlang. Der Vater schüttelte den Kopf, und die Mutter saß neben ihr und drückte von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die verträumten Augen ...

      ... und sie kam weinend am nächsten Morgen nachhause. Warum? Sie konnte es nicht sagen. Sie hatte gefallen. Schönheiten hatte sie genug gehört und alle modernen Metaphern der Bewunderung, die aus dem Großstadttreiben in die Provinz gedrungen waren, hätten ihr die Männer zu Füßen gelegt ... und sie? – Ja, sie hatte daran Freude gefunden einen – Augenblick. Später, später war es eben so, wie immer. In ihrer Seele klaffte wieder jener unausfüllbare Spalt. Es fehlte jenes – etwas. Wie hatte sie es denn immer nur als Kind genannt? – das, ... das ... das Eine! ...

      Ja, das Eine, das fehlte ihr immer ...

      Drei Monde hernach starben die Eltern.

      Dann, – dann, sie wusste nicht recht mehr was dann war?

      Ja, dann hielt er um sie beim Oheim an, der August; der reiche Mühlenbesitzer um die arme Waise.

      »Sie hat Glück« murmelten die Leute und schüttelten die Köpfe.

      So ward sie Braut. Dann kam die Hochzeit.

      Jetzt wird es sich erfüllen – das Eine. So hatte sie damals geträumt.

      Aber vor dem Altar spürte sie Weihrauch und Blumenduft, und es fiel ihr nichts anderes ein, als das Begräbnis ihrer Eltern ... Fünf Minuten später hatte sie »ja« gesagt. Sie war Augusts Weib.

      Hochzeitsmahl: Lachende Menschen, Gläserklirren, Toaste – und was wusste sie

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