Berührungen. Gunter Preuß
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Bernhard fragte sich, ob er denn blind gewesen war, erst jetzt bemerkte er, dass die Jungen und Mädchen in den Unterrichtsstunden mit unheiligen Dingen beschäftigt waren, dass sie unter den Tischen Zettelchen mit schüchternen oder vulgären Liebesbotschaften umhergehen ließen, Briefmarken und Stammbuchbilder tauschten, sich stießen und knufften oder ihre Hausaufgaben erledigten.
Jesus wurde verraten und trat seinen Leidensweg zum Kreuz an. Bernhard schrieb auf eine herausgerissene Heftseite: Sehr geehrtes Fräulein! Ich sitze ganz in Ihrer Nähe. Eine Reihe hinter Ihnen. Von der Tür aus, der dritte Stuhl. Es tut mir leid, dass Jesus jetzt bald ans Kreuz geschlagen wird. Bestimmt wird viel Blut fließen. Bitte erschrecken Sie nicht. Hochachtungsvoll Bernhard Teichmann.
Die schwungvollen, nach rechts geneigten Buchstaben hatten zittrige Linien. Die Punkte nach den Sätzen waren mit der Bleistiftspitze durchs Papier gedrückt. Er las seine Botschaft durch, leise, wie ein Gedicht, und sie erschien ihm von schicksalhafter Bedeutung. Entschlossen ließ er den sorgfältig zusammengefalteten Zettel von Hand zu Hand gehen, saß mit zugekniffenen Augen in gespannter Erwartung, bis sein Nachbar ihn in die Seite boxte und ein Zettelchen zuschob. Mit zitternden Händen entfaltete er es und las die in gleichmäßiger Schönschrift geschriebene Antwort: An Herrn Teichmann (persönlich)! Sie sitzen nicht auf dem dritten Stuhl von der Tür aus gesehen, sondern auf dem vierten. Finden Sie Pfarrer Wendt auch so himmlisch? Danke für die Warnung. Geben Sie mir ein Zeichen, wenn der Jesus am Kreuz leidet. Ich werde mir die Ohren zudrücken. Es grüßt Sie Margitta Krüger. P.S. Zeigen Sie meinen Brief nicht Ihrem Nachbar, der rechts von Ihnen sitzt. Er ist ein Petzer. Seine Mutter erzählt alles meiner Mutter. Vergessen Sie nicht das Zeichen!
Er hätte aufspringen und laut jubeln wollen. Seine Niederlage gegen Liebgott war also vergeben und vergessen. Er war erhört worden! Ganz leicht war es gewesen. Er glaubte an den Zauber seiner Worte. Margitta Krügers Nachricht klang ihm in den Ohren wie himmlisches Zitherspiel.
Mutig geworden, suchte er nun offen den Blick des Mädchens. Er sah suggestiv auf ihren Rücken, dass sie sich zu ihm umschaute. Er nickte, und sie drückte sogleich beide Hände auf die Ohren. Die Kreuzigung Jesu kam Minuten später, als sie längst die Hände von den Ohren genommen hatte; aber sie bekam nichts davon mit, obwohl er das Zeichen vergessen hatte. Es gab fortan nur noch sie zwei, in jeder Bewegung fühlten sie sich vom anderen wahrgenommen, in jedem Gedanken erkannt. Sie lachten oft gemeinsam und meist an völlig unpassenden Textstellen. Pfarrer Wendt rügte sie, sie erröteten und fielen bald darauf in ihr kindliches Werben zurück.
Bernhard hatte mit Margitta Krüger eine dritte Möglichkeit zu leben gefunden; es gab also ein Wesen, das zwischen den Weibern und den Engeln stand. Margitta Krüger war von der Reinheit des Sterntalermädchens, aber sie war auch von Fleisch und Blut wie die Weiber, und bestimmt konnte man sie auch berühren, wenn er das auch nicht wagte.
Nach den Konfirmationsstunden blieben beide, ohne es abgesprochen zu haben, hinter den anderen zurück, die mit Geschrei den Kirchhügel hinunterstoben. Sie fanden eine Bank vor den Goldregenbüschen nahe der Kirchenmauer, setzten sich umständlich, sahen in die gewaltige Kuppel des Himmels, die von der zum Abend noch einmal aufflammenden Sonne mit gleißendem Rot ausgeleuchtet wurde, als wäre es ein Zeichen. Die Luft war sommerlich warm und weich. Auf dem Wege duschten sich Sperlinge mit Staub und tschilpten unentwegt. Die Stadt summte indessen müde vom Tag.
Sie saßen minutenlang schweigend, ohne sich anzusehen, mit pochenden Herzen. Er fühlte seine Kehle trocken, den Nacken steif und die Finger starr. Es ging ihm nicht gut, in ihm schien nichts an seinem Platz, und doch hätte er mit keinem getauscht. Er lebte im Augenblick. All das namenlose Verlangen, das ihn in den letzten Wochen getrieben hatte, erschien ihm erfüllt. Mehr brauchte es nicht, mehr konnte nicht sein. Er hatte endlich die Tür gefunden und war hindurchgegangen. Er war ohne Last, ohne Gedanken an das ersehnte Wort, an das willkommen heißende Lächeln, den weisenden Weg und den erlösenden Kuss. Ja, er war über die Schwelle gegangen, hatte abgeworfen, was ihm angehangen hatte, und stand nun, neu geboren und voller Erwartung, noch einmal ganz am Anfang.
Zusammen und jeden Schritt hinauszögernd gingen sie von der Schule nach Hause, bis sich nach kurzer Strecke ihre Wege trennten. Sie reichte ihm zum Abschied die Hand. Er nahm und drückte sie, dass sie leise aufschrie. Als sie nicht mehr zu sehen war, rannte er los, in großen Sprüngen, die Arme, wie sein Bruder Charly es tat, hochgeworfen, und er dachte, wenn er nur wollte, könnte er jeden Augenblick abheben und fliegen.
Herbert Weisert hatte nun wohl endgültig mit Bernhard gebrochen. Er hatte ihm den Zutritt zum Bastelschuppen der Pionierorganisation verwehrt, die Faust gegen ihn erhoben und gedroht: »Lass dich hier nicht wieder sehen! Ich schlage dich kurz und klein, Teichmann, du Pfaffenknecht!«
Bernhard hatte ihm nicht erklären können, was er sich selbst nicht zu erklären wusste. Er hatte eindringlich an ihre Freundschaft appelliert, um die weitere Teilnahme an den Pioniernachmittagen gebettelt. Weisert hatte vor ihm die Schuppentür zugeschlagen. Im Unterricht oder wenn sie sich auf der Straße begegneten, hatte er keinen Blick mehr für ihn übrig, geschweige denn ein Wort. Dieser Junge war wie aus grauem Stein, in dem ein unbarmherziges Feuer loderte.
Bernhard hätte seiner Freundschaft zu Weisert alles geopfert, nur nicht seine Liebe zu Margitta Krüger. Freundschaft und Liebe waren wohl unvereinbar. Wie die Jungen Pioniere und der Konfirmationsunterricht. Er und Herbert befanden sich in gegensätzlichen, vielleicht sogar einander feindlich gegenüberstehenden Welten. Und sie hatten gewählt.
War Bernhard mit dem Mädchen zusammen, bereute er nichts. Dann war alles richtig und gut, dann war er frei von allen Zweifeln und Selbstvorwürfen. Sie versuchten, jeden Tag zusammen zu sein. Manchmal reichte die Zeit nur für eine flüchtige Begegnung zur großen Pause auf dem Schulhof. Ihre Blicke bauten eine Brücke, die für eine kurze, aber innige Berührung reichte.
Fanden sie mehr Zeit füreinander, gingen sie nach der Schule ein Stück Wegs miteinander, sie kauften im Konsum eine Limonade oder eine Tüte Bonbons, die sie auf dem Rückweg miteinander teilten. Im Konfirmationsunterricht tauschten sie ungestört Nachrichten aus. An den Nachmittagen, wenn sie nicht mit Einkäufen und Hausarbeit beschäftigt waren, liefen sie aus der Stadt hinaus in die wuchernden Wiesen am Ufer des Flutkanals, weit genug entfernt von der Stelle, wo die Jungen sich trafen. Sie sprachen wenig, es war alles gesagt, wenn sie nur zusammen waren. Sie pflückten Blumen, die Margitta zu einem Strauß band, den sie auf den schaumig-weißen Kamm der Strömung warf und von ihr eilig davongetragen wurde. Sie lagen nebeneinander auf dem Rücken und sahen in den überwältigend weiten Himmel, hörten in das gleichmäßige Rauschen des Flusses, rissen Grashalme ab, steckten sie zwischen die Lippen und ließen sie tanzen. In allem, was da um sie war, was kam und ging oder einen Platz gefunden hatte, fanden sie sich wieder. Sie kamen nicht auf den Gedanken, einander zu streicheln, zu umarmen, vielleicht sogar zu küssen. Sie fanden es vollkommen, wie es war, es fehlte ihnen an nichts. Sie lebten im kindlichen Überfluss.
Bis zur Dämmerung waren sie in den Flusswiesen geblieben, keiner hatte zum Aufbruch gedrängt. Sie spürten, diesmal würden sie miteinander sprechen müssen. Das machte sie unruhig, denn sie wussten nicht, ob sie die Worte finden würden.
Die Vögel kehrten zurück ins Laub der Büsche und Bäume. Die Sonne sank zusehends und verlor an Kraft. Der Fluss färbte sich dunkler. Die Blüten der Goldnessel und der vielen anderen Wildblumen schlossen, die Gräser neigten sich.
Er saß wie aus schwerem Holz gehauen und doch voller Unruhe neben ihr. »Ich muss losgehen«, sagte er mit fremder Stimme.