Berührungen. Gunter Preuß
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Die Mutter umarmt Rose und sagt forsch: »Lass dich mal anschauen, mein Schatz. Es geht´s dir also besser heute, na, wenn das kein Grund zur Freude ist. Ich werde dann gleich deinen Vater bei den Proben anrufen.«
Rose sträubt sich gegen die Umarmung, doch dann gibt sie nach und schmiegt sich an die Mutter.
»Wie soll es mir denn besser gehen, Mama?«, klagt Rose. »Mir tut alles weh, und dabei fühle ich meine Beine überhaupt nicht.«
Die Mutter streichelt ihr übers Gesicht. Zärtlich sind ihre Finger. Und trotzdem spürt Rose sie anders auf ihrer Haut, nicht mehr so warm, ungeduldig, nervös. Die Mutter hat sich verändert. Auch der Vater. Und sie verändern sich weiter, Rose kann es nicht aufhalten. Beide verbergen etwas vor ihr. Nachts hört sie die Eltern von nebenan aus ihrem Schlafzimmer. Seit Rose krank ist, stehen beide Türen tags wie nachts spaltbreit offen. Die Eltern sprechen leise miteinander, sie streiten nicht, aber sie sind sich nicht mehr gut. Da ist sich Rose gewiss. Etwas Fremdes wächst da zwischen ihnen, es verbreitet sich im ganzen Haus und nimmt mehr und mehr Raum ein, auch in Rose.
»Ich verstehe das nicht, Kind.« Die Mutter seufzt, ihre Finger üben jetzt Druck aus. »Der Doktor sagt, du dürftest kaum noch Schmerzen haben. Es ist, du musst den Unfall endlich abhaken, Rose. Du musst wieder auf die eigenen Beine kommen, mein Schatz.«
Rose stößt die Mutter zurück. Soll sie nur darum wieder laufen, damit die Eltern auseinandergehen können?! Das wird sie niemals zulassen.
»Sage nicht immer, mein Schatz zu mir!«, sagt Rose kalt. »Und Doktor Neunmalklug, dass ich nicht lache! Über den ist kein Auto gefahren! Der weiß nichts! Ihr alle wisst gar nichts! Ich habe Schmerzen! Ich kann nicht laufen!«
Peters Hand umschließt den Frosch, er hört alles mit an. Er weiß nicht, was er davon halten soll. Er spürt schon lange, dass in der Familie etwas vorgeht, was keinem guttut.
»Aber Kind, Rose …« Die Mutter scheint betroffen vom Gefühlsausbruch ihrer Tochter. Sie deckt sich beide Hände auf die Augen, schwankt leicht, erscheint mit einmal kraftlos, müde, wie gebrochen.
Rose beobachtet die Mutter genau. Bestimmt spielt sie ihr nur wieder etwas vor, damit sie leichter ihren Willen durchsetzen kann. Aber nein, Rose fällt darauf nicht rein, sie weiß selbst, wie man sich am besten durchsetzt. Und ja, sie möchte der Mutter manchmal wehtun, sie verletzen, wie sie sich von ihr verletzt fühlt. Wirklich aber will sie, dass sie sich in Mutters Armen wieder wohlfühlt, geborgen wie in einem Nest. Wie früher, als noch alles gut war zwischen ihnen, den »drei Musketieren«, wie Vater einmal sagte. Als es zwischen ihnen noch keine Geheimnisse gab.
»Mama ...«, sagt Rose vorsichtig fragend, aber da strafft sich der Körper der Mutter schon wieder. Sie nimmt die Hände von den Augen, setzt eine ihrer übergroßen Sonnenbrillen auf, rückt sich wie ein Mann den Binder gerade, steht elastisch auf und sagt: »Nun komm schon, Kind, versuchen wir zusammen ein paar Schritte zu gehen. Und wenn es nur ein Schritt ist, Rose. Wenn der erste getan ist, gehen die anderen wie von selbst.«
Roses zieht den Kopf zwischen die Schultern und sagt kaum hörbar, aber bestimmt: »Ich kann nicht gehen. Keinen Schritt. Papa sagt, du sollst mich nicht aufregen.«
Die Mutter weiß, wenn sie verloren hat, aber sie wird nicht aufgeben. Nie. Den Kopf erhoben, den Rücken durchgedrückt, verlässt sie mit langen Schritten das Grundstück.
Als sie nicht mehr zu sehen und das harte Aufsetzen ihrer Stiefelabsätze verklungen ist, richtet Rose sich auf und schüttelt sich, kurz und heftig, als wollte sie etwas für immer loswerden.
Rose und Peter schweigen. Sie sehen aneinander vorbei. Drei Tauben setzen im Geäst einer Birke auf, flattern aber sogleich wieder hoch, drehen ab, gewinnen schnell an Höhe und sind verschwunden.
Peter hört Rose rufen: »Was ist denn nun? Bewegt sich der hässliche Hyla arborea noch? Oder ist er tot?«
Der Junge öffnet sogleich die Hand und der Frosch entgleitet ihm ins Gras.
»Was bist du doch dumm!«, ruft das Mädchen. »Fang ihn sofort wieder ein! Und schlage das Biest endlich tot!«
Der Junge robbt durchs Gras, kurz vor dem kleinen Teich bekommt er den Grünen wieder zu fassen. Er geht zur Terrasse, nimmt den Kunststoffhalm aus dem Milchglas und setzt ihn auf das Hinterteil des strampelnden Frosches.
Der Junge hört wieder den Spott, der ihn aus der Schule vertrieben hat. Er sagt: »Ich blase dich auf, du Frosch – bis du zerplatzt – dann gibt´s dich nicht mehr.«
Das Mädchen ist verunsichert, das hat sie von dem Jungen, der ihr sagt, er sei ihr Freund, nicht erwartet.
»Blase ihn nicht auf«, bittet sie. »Schmeiß ihn einfach auf die Erde.«
»Ich blase ihn auf«, beharrt der Junge, und ihm ist, als spräche da ein anderer aus ihm.
»Tu’s nicht!«
»Ich tu’s doch!«
Das Mädchen drückt sich überhastet aus dem Rollstuhl hoch, tritt mit einem Fuß heraus und verharrt.
Der Junge starrt sie fassungslos an, sie fährt zusammen und lässt sich zurück in den Rollstuhl fallen.
Der Junge hat unwillkürlich seine Hand geöffnet und stiert auf den Frosch, der mit einem weiten Satz von seiner Hand über das Ende der Terrasse hinaus ins Gras springt und darin verschwindet.
Der Junge streicht langsam und nachdrücklich mit den Handflächen über seine Hosenbeine, wieder und wieder, als wäre es ihm nicht möglich, damit aufzuhören. Schließlich gelingt es ihm doch, sich davon loszureißen
»Bis morgen«, sagt Peter. »Ich muss jetzt los.«
Er läuft zum Zaun, will darüber steigen. Doch Rose ruft: »Geh durch die Tür. Und komm morgen wieder, hörst du.«
Der Himmel hängt wie eine schwere graue Decke über dem Ort. Die Hügel sind in schwarze Wolken gehüllt. Die ersten Tropfen fallen, dick und schwer.
Rose nimmt ihr Buch auf, lenkt den Rollstuhl ins schützende Haus.
Peter läuft unter Bäumen, doch dann ergreift ihn die Lust, der er sich willig überlässt, sich dem prasselnden Regen auszusetzen. Er reckt sein überhitztes Gesicht in den Guss und spürt dem Prickeln nach, wenn das linde Wasser in Berührung mit seinem Körper kommt – zuerst an der Stelle, dann an der, bis er völlig durchnässt ist. Er fühlt sich ganz nackt und ohne Scham, noch zweifelt er, dass er es ist, der hier allein auf der Straße im Regen steht, aber er weiß, dass er das herausfinden wird, spätestens auf dem Tschomolungma.
Manja (Eine Handvoll Sehnsucht, 1999)
Schon am ersten Tag seines Hierseins war Ludwig in die Berge gegangen. Jeden folgenden Tag stieg er höher. Die Pfade wurden schmaler, manchmal musste er ein paar Meter klettern, um weiterzukommen. Die Höhe machte ihm nichts