Berührungen. Gunter Preuß

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Berührungen - Gunter Preuß страница 8

Автор:
Серия:
Издательство:
Berührungen - Gunter Preuß

Скачать книгу

ihm ein unbekanntes Abenteuer, und er folgte ihr ohne zu zögern. Es war ein dünnes, wippendes Seil, auf dem er in das Theater gehen musste, Schritt für Schritt, balancierend, die Arme etwas gehoben, als könnten ihm in der Not Flügel wachsen.

      Er kam aus der einen und ging in eine andere Welt. Alle Fremdheit verschwand wie ein Schatten, er gewann an Sicherheit, wusste, es war gewollt, dass er nun hier im Halbdunkel die Stuhlreihen entlanglief. Er setzte sich in eine hintere Stuhlreihe an den Rand und sah begierig hinauf zur Bühne.

      Zurückversetzt in ferne Zeit, in ein dänisches Schloss am Meer, fand er sich in ein grausames und verwirrendes Spiel verwickelt. Von Anbeginn fühlte er sich diesem Prinzen zugeneigt, Hamlet, von dem er bereits gehört hatte, aber nichts wusste. Bernhard litt mit dem jungen Mann, der an sich zweifelte, alles infrage stellte, sich ruhelos befragte und bis zum Grund aufwühlte. Dieser Hamlet konnte sich selbst und den anderen, die ihm nahestanden, keinen Frieden geben, weil sie ihm keinen Frieden gaben. Bernhard wuchs förmlich in den Verzweifelten hinein, er atmete, dachte und sprach mit ihm aus, was da war und nicht war. So vieles verstand er nicht, aber er wusste, es war wahr. Er war sich sicher, was kommen würde und fürchtete sich nicht - sie starben gemeinsam an dem Gift, das im Schloss wie ein Gespenst umging und dem keiner entgehen konnte. Nach all dem erfahrenen Leid und den durchlittenen Ängsten empfand der Junge den Tod wie eine Erlösung.

      Bernhard brauchte Zeit, bis er aus dem Spiel auf der Bühne herausfand. Der Vorhang war geschlossen, der Saal hatte sich geleert. Verwirrt sprang er auf und tastete sich im Dunkel aus dem Zuschauerraum.

      Im Haus war es still. Er geriet in ein Labyrinth von schmalen Gängen, hörte verstecktes Lachen, Seufzen und Klagen, tastete an Abgründen vorbei, geriet ins Scheinwerferlicht, roch Veilchenduft und beißenden Schweiß, sah unter Engelsflügeln verzerrte Teufelsmasken, an Fäden schwangen wie im Tanz prächtige Kleider. Ein kalter Wind ging ihm unter die Haut, er rannte ein Stück, ihm wurde nicht wärmer. Hier und da stieß er an, spürte keinen Schmerz, er hatte nur den Wunsch anzukommen.

      Er suchte nach der Hand, die ihn hergeführt, lauschte nach der Stimme, die ihn gerufen hatte. Niemand berührte ihn. Niemand rief nach ihm. Er versuchte, sich des Vaters und der Mutter zu erinnern. Zwischen all den Dingen sah er einen Schlosserkittel und eine weiße Schürze aufeinander zu schwingen und sich voneinander entfernen im ermüdenden Rhythmus des Perpendikels eines Regulators. Und da schwang auch er, ohne Gesicht und Körper, nur eine abgetragene dunkle Jacke. Wie blind tastete er sich weiter, er würde nie aufhören zu suchen.

      Eine Tür stand offen. Er sah einen Mann vor einem großen Spiegel sitzen – es war Hamlet. Er sah in den Spiegel, sein und Hamlets Gesicht, das Gesicht eines Mannes mit kühn blickenden Augen und schmalem Mund, wortlos allen Schmerz verspottend.

      Hamlet rührte sich nicht, er saß da wie durch seinen eigenen Anblick erstarrt.

      Bernhard wollte es ihm zurufen, das erlösende Wort, das ihm im Traum erschien, an das er sich aber erwacht nicht erinnern konnte.

      Im Spiegel sah er, dass Hamlet nun entschlossen beide Hände hob und sich die wie pures Gold glänzenden Haare vom Kopf zog – und es kamen andere Haare ans Licht, schütter, farb- und glanzlos, an den Schläfen grau. Die Hände griffen sich vom Tischchen ein Tuch und rieben derb damit übers Gesicht, und es war, als zöge es die Haut ab, von der Stirn zur Brust hinunter. Die Stirn hatte in ihrer Mitte eine narbenähnliche Kerbe, die den Eindruck erweckte, als sei sie gespalten. Aus den Augen verlor sich alles Aufbegehren in Müdigkeit. Die edle Nase drückte sich zwischen krankhaft geröteten Wangen in die Breite. Und der Mund – der zu sagen gewagt hatte, wovon sonst niemand sprach – dieser Mund hatte blasse Lippen, die einander schlaff berührten.

      Bernhard schwankte, wie ein gepeitschter Kreisel schien er sich um sich selbst zu drehen, er wünschte sich, dass das aufhörte, dass er stürzte und dunkel würde. Aber er blieb auf den Beinen und sah in ein Krämergesicht, das ihm, seit er sich erinnern konnte, so oder so täglich begegnet war und fortan begegnen würde. Dem Mann waren die Augen zugefallen, er war wohl eingeschlafen.

      Bernhard schlich sich aus der Garderobe. Er fand schnell den Ausgang des Theaters. Es war eine sternenklare kalte Nacht, er knöpfte sich die Jacke bis oben hin zu und stelle den Kragen hoch. Die Straße war breit und leer, er lief mitten auf ihr, und er war sich gewiss, dass er von nun an auf diesem dünnen Seil, auf dem er ins Haus gelangt war, balancieren müsste.

      Der Tausch (Verbotene Türen, 1985)

      Nun war dieser Mann in ihre Familie geraten. Bolz war aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft gekommen und hatte der Mutter den letzten Brief ihres Mannes und die Nachricht von seinem Tod gebracht. Eines Tages war der Rückkehrer wieder zu ihnen gekommen; dann kam er in immer kürzeren Abständen und schließlich jeden Tag. Die Familie hatte sich schnell an Bolz gewöhnt: an seinen Mut, Herausforderungen zu begegnen; an seine wohlklingende Tenorstimme, wenn er ihnen Lieder und Arien vorsang; an die kleinen Geschenke, mit denen er sie verwöhnte. Er warb um Maria mit unaufdringlicher Ausdauer. Er sagte zu ihr: »Lass uns tauschen, Maria. Du brauchst einen Mann und für deine Kinder einen Vater. Ich brauche eine Frau und Kinder. Du gibst dich mir. Ich gebe mich dir. Das ist doch ein Angebot.«

      Die Kinder nickten zu seinen Worten.

      Maria begann das Abendbrot abzuräumen und sagte: »Ich brauche nichts. Was ich verloren habe, lässt sich nicht wiederfinden.«

      »Schon gut«, sagte Bolz. »Ich lass dir Zeit. Aber glaub mir, wir leben und wir brauchen einander.«

      Es war die Zeit des Tauschens. Wer etwas besaß, handelte damit. Gold wurde gegen einen Laib Brot getauscht, silberner Schmuck gegen einen Sack Kartoffeln oder Mehl. Der Hunger ließ den Schwarzhandel wuchern. Und in Bolz΄ Adern floss Händlerblut. Er schien sein Leben auf den Märkten der Welt verbracht zu haben, ein herumziehender aus Königs Gnaden entlassener Narr, der den Leuten sein Lachen und ein Lied anbot. Er tauschte Stück um Stück, bis er bekam, was er wollte: Parfümierte Seife für Maria, für Rita ein Paar seidene Strümpfe, einen Filzhut für Charly, einen Rechenschieber für Werner, für Jinni eine Puppenstube und für Bernhard Teile zu einem Fahrrad, das er ihm zusammenbaute. Für sich selbst brauchte Bolz wenig. Manchmal versackte er in einer Kneipe. Die Leute bezahlten ihm gern ein paar Bier und Schnaps, wenn er ihnen nur sagte: »Das Leben geht weiter, Männer. Wer sich nicht das Unkraut von unten ansieht, der muss sein Feld bestellen.« Und er schmetterte ihnen den Filmschlager »Ein Lied geht um die Welt …«, der schon Joseph Schmidt, dessen Stimme er pries, berühmt gemacht hatte.

      Die Familie bewunderte Geschäftssinn von Bolz, der ihnen völlig abging. Sie bestaunten sein Weggehen mit einem Stein und sein Wiederkommen mit einem Klumpen Butter. Es kam vor, da schloss Bernhard sich Bolz an. Er vermutete hinter dem Tun von Bolz eine Art Zauber. Denn er verstand nicht, was da passierte zwischen treppauf und treppab, vor und hinter Wohnungstüren: geflüsterte, ihm unverständliche Worte, gebende und nehmende Hände, die sich schnell wieder unter Mänteln verbargen. Selten ging Bolz auf den Schwarzmarkt. Er suchte seine Kunden in den Häusern der Stadt. Schnüffelnd wie ein Hund lief er durch die Straßen, und er fand fast immer den Ort, wo es etwas zu holen gab.

      Eines Abends hatte Bolz im Eifer des Handelns Bernhard in einer Wohnung zurückgelassen. Das Haus befand sich im östlichen Teil der Stadt, in dem von jeher die Ärmsten gelebt hatten: Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Waschfrauen, kleine Ganoven und billige Huren. Die Wohnung sah aus wie ein kleines Museum, ein Lager für kostbare Möbel, bunte Teppiche, reich verzierte Vasen, handgearbeitete Wandbehänge, Gemälde und kleine Skulpturen. Die gesamte Wohnungseinrichtung passte nicht in diese Gegend.

      Es war zur Zeit der allabendlichen Stromsperre, nur eine Petroleumlampe erhellte den Raum. Bernhard bewegte sich lautlos. Er spürte federnde Teppiche unter den durchgelaufenen

Скачать книгу