Berührungen. Gunter Preuß

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Berührungen - Gunter Preuß

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      Er hielt eine schlanke Vase in den Händen, auf die ein Jüngling und ein schönes Mädchen aufgemalt waren, beide nackt, in einer Umarmung, als würden ihre Körper zusammenschmelzen.

      »Die Vase gefällt dir, ja?«

      Bernhard schrak zusammen, als er aus dem Dunkel des hinteren Raumes die Frauenstimme hörte. Nicht einmal zu nicken wagte er. Seine Hände zitterten, als er die Vase abstellte. Bolz hatte den Handel mit einem weißhaarigen alten Mann, der eine Brille mit grünen Gläsern trug und eine klagende Stimme hatte, geführt. Eine Frau hatte Bernhard nicht bemerkt.

      »Komm. Komm zu mir.«

      Bernhard tappte in den Dämmer hinein. Auf einem hochlehnigen Stuhl saß die Frau. Sie trug ein altertümliches Kleid. Es war eine junge Frau mit dichten schwarzen Haaren, schmalen Augen, blassem Gesicht und Armen und Händen wie aus weißem Porzellan. Etwa zwei Schritt von ihr entfernt blieb er stehen.

      Sie sagte leise, mit klingender Stimme: »Du bist neugierig, mein Prinz. Wie weit hast du denn gehen müssen, um mich zu finden? Setz dich zu mir.«

      Bernhard setzte sich auf eine Fußbank, die neben ihrem Stuhl stand. Er fühlte eine kühle Hand auf seinem Gesicht und hörte ihre feine Stimme. »Du bist schön, mein Prinz. Was für eine reine Haut du hast. Ist der Krieg nun zu Ende? Sage es mir doch. Wann wird denn das Licht wieder da sein? Oh, ich habe lange nicht mehr getanzt. Wie überall hast du mich suchen müssen, mein Prinz?«

      Bernhard kam sich alt vor, voller Weisheit und Verstehen, und er war froh, dass er hier sitzen konnte. Er sagte: »Lange habe ich dich gesucht. Um die ganze Welt bin ich gelaufen.«

      Die Frau beugte sich etwas vor. »Ich bekomme ein Kind«, flüsterte sie ihm zu. »Pscht! Das weiß niemand. Niemand darf es mir wegnehmen. Ich bin ja so froh, dass du da bist, mein Prinz. Hier - fühle doch. Spürst du es?«

      Sie zog seine Hand auf ihren Bauch. Er fühlte eine Wölbung – Stoff, ein Kissen. Er sagte: »Ich spüre es. Ja.«

      Die Frau lachte leise. Bernhard sah in ihre Augen. Die Pupillen waren zwei starre dunkle Punkte.

      Inzwischen war der Strom wieder da und tauchte den Raum in ein fahles Gelb. Der weißhaarige alte Mann kam ins Zimmer. Wortlos fasste er Bernhard am Arm und führte ihn nach draußen.

      Die Straße war spiegelglatt. Ein kalter Wind stemmte sich Bernhard entgegen.

      »Da bist du ja endlich«, rief ihm Bolz entgegen. »Wo warst du denn bloß, Junge? Ich bin die verdammte Straße ein paar Mal auf und ab gelaufen. Hier ist der letzte Hund verreckt. Aber der Tausch hat sich gelohnt.«

      Sie rannten einer anfahrenden Straßenbahn hinterher, sprangen auf den hinteren Perron des letzten Wagens. Der Schaffner half Bolz, der ein Paket umklammerte, aufzusteigen. Er verlangte eine Strafe für das Aufspringen während der Fahrt. Bolz verhandelte, schließlich lachten beide, und der Schaffner ließ eine Zigarre in seiner Geldtasche verschwinden.

      Bernhard lehnte in der offenen Tür und hielt seinen Kopf in den eisigen Fahrtwind. Die Straßenbahn fuhr quietschend und schüttelnd von Haltestelle zu Haltestelle. Die Straßen waren menschenleer. Hinter den Fenstern der Häuser brannte mattes Licht. Aus den Essen stiegen schmale Rauchsäulen.

      »Die Frau - die junge Frau«, sagte Bernhard zu Bolz. »Wie heißt sie? Wer ist sie?«

      »Welche junge Frau?«, fragte Bolz. »Wo denn? Ich habe keine gesehen.«

      In der Nacht wälzte Bernhard sich hin und her. Kaum eingeschlafen, erwachte er wieder, er fühlte sich von zwei Händen berührt, von zwei Augen angesehen. Am nächsten Vormittag verließ er in einer Unterrichtspause die Schule. Er lief durch die Stadt, irrte durch das Labyrinth der Straßen. Er versuchte sich zu erinnern, ging in Häuser, klopfte an Wohnungstüren, Türfenster wurden spaltbreit geöffnet, fremde Augen musterten ihn misstrauisch, fremde Stimmen wiesen ihn ab. Am Abend kehrte er nach Hause zurück, warf sich aufs Bett und sagte sich, dass es diese junge Frau nicht gab, dass die Begegnung mit ihr nicht stattgefunden hatte. In der Nacht erzählte er Charly von seinem Erlebnis. Der Bruder war soeben von einem seiner nächtlichen Ausflüge zurückgekehrt. Er sah aus wie ein zerraufter Kater, sein Gesicht war wie geschrumpft und faltig. Charly wankte durch das kleine Zimmer, als müsste er eine schwere Last tragen. Als er sprach, wurden seine Schritte leichter, seine Hände beredt.

      »Was weißt denn du, Kleiner«, sagte Charly. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, davon träumen wir nicht mal. In dieser Sekunde, Kleiner, weißt du, was in dieser Sekunde alles passiert? Na, hör zu. In der Achtzehnten Straße in New York, dort wird gerade so ein armes Schwein, das sich den ganzen Monat in einem Heizungskeller abgerackert hat und die paar Mark Lohn zu seiner Familie nach Hause tragen will, von zwei Kerlen niedergestochen und ausgeraubt. Puff. Aus. In dieser Sekunde, Kleiner, da gibt΄s ΄nen Verrückten, der will einen Berg besteigen, weil΄s ihn eben juckt, und kurz vorm Gipfel stürzt er ab. Auch Puff. Aus. In dieser Sekunde knallen zwei Züge zusammen, darin saßen Leute, die sangen Lieder, spielten Karten, und ein Kind saß darin, das wollte nur eine Station mitfahren. In Berlin stürzt ΄ne Ruine zusammen und begräbt ΄n Liebespaar. In irgendeinem Gefängnis schneidet sich einer die Pulsadern auf. Und in irgendeinem Haus dieser Stadt hast du ΄ne junge Frau gesehen, die nicht mehr alle beisammenhat und blind ist und besser tot als lebendig sein sollte. So ist das, Kleiner, alles in einer Sekunde. Niemand kann wissen, was da noch alles passiert. Und wenn΄s ΄nen Gott gäbe, Kleiner, und der tatsächlich was wüsste, dann hat der allen Grund, sich im Himmel zu verstecken. Soll ich weitererzählen, was in einer Sekunde alles passiert …?«

      »Hör auf, Charly«, bat Bernhard beklommen. Und doch wollte er mehr erfahren. »Erzähle weiter, Charly! Erzähle mir alles!«

      Charly lachte, warf die Arme empor. »Alles?!, sagt er, Verrückter, du! Ich sage dir: Wer alles sieht, wird blind. Wer alles atmet, erstickt. Wer alles hört, wird taub. Alles, Kleiner, ist gar nichts. Alles ist der Tod.«

      Bernhard fand in des Bruders Augen Trauer und Lust. Er rief: »Charly! Passiert denn überall nur Schreckliches? Du, ich wünsche, dass Sommer ist! Die Schwalben sollen fliegen! Das Wasser des Kanals soll warm sein, dass wir darin baden können! Und die Wiesen, Charly, das Gras, wir können uns mitten hineinlegen und in den blauen Himmel sehen, wir können …«

      »Hör auf!« Charly verdrehte die Augen, zappelte auf der Stelle herum, stieg auf einen Stuhl, dirigierte ein großes Orchester, und die Flut der Melodien war wie ein reißendes Wasser, in das die Brüder gerieten und sich aneinanderklammerten.

      »Vergiss die Frau, Kleiner«, sagte Charly. »Vergiss, was du in dieser Nacht gesehen hast. Versprich mir΄s, Kleiner.«

      »Ich verspreche es, Charly. Wenn nur erst wieder Sommer wäre …«

      Im Kino (Verbotene Türen, 1985)

      Da war ein Dämon in ihm, der sein Blut heißmachte und ihn mit Sirenenstimme lockte. Er hatte Zuflucht vor sich selbst gesucht und war in ein Kino gekommen, das sich zwischen Ruinen in einem mit Abfallkübeln vollgestellten Hinterhof befand.

      Der Film hatte längst begonnen. Die Platzanweiserin führte Bernhard in eine der vorderen Reihen und drückte ihn auf das ächzende Holzgestühl.

      Er konnte kaum sitzen, ihm war sonderbar heiß, vor seinen Augen flimmerte es, und die Stimmen aus dem Lautsprecher dröhnten ihm in den Ohren.

      Als er sich

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