Im Licht Kafarnaums. Leo Gold
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Leo Gold
Im Licht Kafarnaums
Novelle
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Inhaltsverzeichnis
Im Licht Kafarnaums
Abflug Frankfurt – Ankunft Tel Aviv – Hotel – Abendessen – Spaziergang – einbrechende Nacht
Viel war in den vergangenen zehn Jahren im Leben der Brüder Max und Stefan geschehen. Kein Jahrzehnt war aufschlussreicher verlaufen als das letzte. Max hatte in diesem Jahr 2018 seinen 43. und Stefan seinen 40. Geburtstag gefeiert. Beide hatten in dem versunkenen Jahrzehnt ihre Ehefrauen verloren. Stefan nach einer kurzen, kinderlosen Ehe, Max nach einer zehnjährigen Ehe, in der zwei Söhne geboren wurden. Nein, die Ehefrauen waren nicht gestorben. Oder irgendwie doch. Sie verblassten als Ehefrauen, bis die Scheidung ihren Familienstand als verheiratete Frauen gänzlich aufgehoben hatte. Es gab unterschiedliche Gründe, weshalb sich die beiden Paare trennten. Und es gab eine Gemeinsamkeit, warum Max und Stefan wieder Singles geworden waren.
In ihrer Ursprungsfamilie hat im Allgemeinen jeder intuitiv die Grenzen des anderen gespürt und diese nicht gefährdet. Vielmehr probierte man, dem anderen zu helfen, dass er wieder von seiner Grenze wegkommt und entspannt weiterleben kann. Und wenn aus Unbedachtheit doch eine Grenze bedroht oder überschritten wurde, reichte ein kurzes verbales Signal, damit der andere wusste, dass eine Grenze verletzt worden war. Und dann geschah das in Zukunft nicht mehr.
In diesem sich ausgleichenden familiären System kam keiner zu kurz und keiner zu lang. Solange die vier - Max, Stefan und ihre Eltern Dieter und Elli - zusammenlebten, funktionierte dieses System. Gab es draußen Streit, konnten sie sich im familiären Hafen sicher sein, konnten dort seelischen Proviant aufladen, ehe sie zurück aufs Meer fuhren.
Mit Beginn des Studiums und den ersten Beziehungen zeichneten sich für Max und Stefan zunächst Ahnungen ab, die sich in jeder neuen Beziehung zu Gewissheiten entpuppten. Ihre Erfahrungen im Umgang mit Grenzen und Schwächen in ihrer Ursprungsfamilie bildete die Ausnahme. Ihre Partnerinnen, ob hübsch, intellektuell, garstig, theatralisch, versonnen, leidenschaftlich, langweilig, wehmütig, optimistisch und so fort, hatten durch verschiedene Kindheitsbelastungen, Abwehr- und Durchsetzungskräfte entwickeln (müssen), damit sie nicht zu kurz kamen. Diese versetzten sie gegenüber Stefan und Max in eine stärkere Position, woraus auf Dauer ein Missverhältnis entstand, das Streit hervorrief, der durch die beiden Scheidungen beendet wurde.
Der Konflikt wurde beendet, weil sich die Partner trennten. Nur, dieser passive Akt half keinem weiter. Sich scheiden zu lassen, bedeutete, die Chance zu verpassen, sich weiterzuentwickeln, sich selbst und die Ehe zu festigen. Jede Anfechtung, sei es, dass dem Mann zunehmend auffällt, dass es auch andere schöne Frauen auf der Welt gibt, oder dass der Frau auffällt, dass es auch andere schöne Männer auf der Welt gibt, jede Begegnung mit einer seelischen Verletzung, sei sie uralt, alt oder noch frisch, sie machten darauf aufmerksam, dass die Persönlichkeit, die Ehe wachsen will. Die Scheidungen schnitten somit einen Wachstumsweg ab. Das war schade. Der hohe Grad an Empfindsamkeit, die intellektuelle Stärke sowie die moralisch-idealistischen Überzeugungen von Max und Stefan trugen dazu bei, dass ihnen ein Arrangement mit der Ehewirklichkeit noch nicht gelang.
Noch nicht gelang! Denn das Leben ließ sich nicht von ihnen trennen. Unaufhörlich bot es sich ihnen weiter an. Das bedeutete aber, Engstellen zu meistern. Um mehr Mensch zu werden, gab es für sie keinen Umweg um Martin Bubers schöne Entdeckung herum: „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“ Welche Beziehungsform dies annimmt, ist individuell. Im Verlauf ihrer bevorstehenden Rundreise durch Israel zeigte sich, wie bei Stefan die Sehnsucht nach einer Frau unaufhaltsam keimte.
Selbst die Scheidungen der beiden riefen neben Trauer, Angst und Wut neue Möglichkeiten hervor. So vertiefte sich das Verhältnis der beiden Brüder. Eine Folge ihres neuen Kontaktes war, dass sie zum ersten Mal als Erwachsene zu zweit eine Reise unternahmen. Sie wunderten sich, weshalb sie es bislang noch nicht geschafft hatten, Israel zu besuchen.
Ihr Vater Dieter war 1984 mit Freunden aus seiner Studentenzeit nach Israel geflogen. Wie damals üblich hatte er Dias der Reise im Fotogeschäft machen lassen. An einem Maiabend zeigte er sie Max, Stefan, ihrer Mutter Elli (die Kurzform von Eleonore) und den Nachbarn im Wohnzimmer. Dort diente eine Wand mit weißen Tapeten als Projektionsfläche. Begeisternd erzählte Dieter zu den Bildern die einzelnen Reiseerlebnisse und ergänzte sie mit Anekdoten.
Da es Dieter liebte einzukaufen, brachte er auch gern Reisesouvenirs mit. Max und Stefan bekamen Palästinensertücher, eines in schwarz-weiß, eines in rot-weiß mit einer schwarzen Kordel, so dass die beiden wie kleine Palästinenser aussahen. Was Stefan noch mehr freute als diese fremdländische Kopfbedeckung, war der Kelch aus Blech, dessen Außenseite christliche Muster zeigte. Max und Stefan spielten nämlich regelmäßig das Abendmahl, das sie sonntags im Gottesdienst mitfeierten, am Wohnzimmertisch nach. Mal war Max, mal Stefan der Pfarrer und der jeweils andere übernahm die Rolle des Messdieners. Am meisten freuten sie sich auf das Einschenken von Wasser und Traubensaft. Bis ihnen ihr Vater den Blechkelch aus Israel mitgebracht hatte, fungierte ein Weinglas als Kelch. Durch den Blechkelch fühlte sich ihre Zeremonie nun beinahe echt an. Ihrer Mutter Elli hatte Dieter außer einem Seidenschal vom Jerusalemer Markt und einem orientalisch duftenden Parfüm einen Bildband über Israel geschenkt. Dieser weckte auch bei Max Interesse. Die Wüstenlandschaften, Bilder der einheimischen Bevölkerungsgruppen, die Klagemauer, der See Genezareth, das Tote Meer und die vielen weiteren Motive fesselten ihn und beflügelten seine Fantasie, wie dieses wundersame Heilige Land, das sein Vater besucht hatte, wohl in Wirklichkeit aussehen, wie es riechen, wie das Essen dort schmecken würde. Die Begeisterung ihres Vaters hatte sich ins Langzeitgedächtnis von Max und Stefan übertragen.
Einige Wochen bevor sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren, hatten sie im Keller ihres Elternhauses nach den Israeldias gesucht, die Dieter an jenem besagten Maiabend gezeigt hatte. Aber in welchem Eck sie auch schauten. Sie wurden nicht fündig. Auch Elli konnte ihnen nicht weiterhelfen. Sie sagte nur: „Vermutlich hat sie Dieter weggeworfen“. Etwa ein Jahr vor