Im Licht Kafarnaums. Leo Gold

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Im Licht Kafarnaums - Leo Gold

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      Wie Stefan und Max waren Maria und Mathilde noch nie allein miteinander verreist. Da Maria die Gabe hatte, spontan zu sein, und das Gefühl und später den Gedanken nicht verlor, sie habe etwas mit Mathildes Zusammenbruch zu tun, lud sie Mathilde auf diese Israelreise ein. Mathilde wunderte sich, weshalb das Reiseziel ‚Israel‘ sein solle. Sie waren zwar beide katholisch getauft, ansonsten hatten sie mit der Kirche und dem Glauben nicht viel am Hut. Weshalb also ‚Israel‘? Auf Mathildes Frage, warum es ‚Israel‘ sein solle, Mallorca, Tunesien, Griechenland oder Italien seien doch auch schön und schneller zu erreichen, hob Maria die Schultern und sagte: „Keine Ahnung. Als ich vorgestern Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, war mir klar, wir zwei müssen nach Israel reisen.“

      Mathilde wusste nicht, wie ihr geschah. Aber sie war offen, nach ihrem Zusammenbruch noch offener, weil auch sie mutmaßte, dass sie nicht von ungefähr krank geworden war. Zudem war sie neugierig, wie es sein würde, allein mit ihrer Mutter zu verreisen.

      Stefan blickte von Mathilde zu Max, der immer noch mit seinen Tischnachbarn Andreas und Inge sprach. Stefan hörte, wie Andreas zu Max sagte: „Wir müssen noch unsere Koffer packen. Aber wir sehen uns ja gleich wieder in der Lobby.“

      Da die Schlange vor dem Kaffeeautomaten auf zwei Personen zusammengeschrumpft war, stellte sich nun Stefan an und holte für Max und sich zwei Café, die sie tranken, ehe sie ihre gepackten Koffer aus dem Hotelzimmer holten und mit dem Aufzug in die Hotellobby fuhren.

      Dort hatte sich schon ein Pulk von etwa zwanzig Leuten um einen jungen Mann geschart, der sie, gemessen an der Gelöstheit und an dem Lachen, bestens unterhielt und der Reiseführer sein musste. Max und Stefan gesellten sich dazu und hörten, wie er gerade begann, die Vornamen auf seiner Liste laut vorzulesen. Kam eine Antwort, machte er einen Haken hinter dem Namen. Als er am Ende seiner Liste angelangt war, fehlten noch zwei Haken, damit die Gruppe komplett war. Noch einmal fragte er laut: „Maria und Mathilde?“ Keine Reaktion. Stefan schaute in die Gruppe und bedauerte, dass die beiden Frauen, die er zuvor im Speisesaal gesehen hatte, offensichtlich nicht zu ihrer Reisegruppe gehörten. Dass sie Maria und Mathilde hießen, schien ihm unwahrscheinlich. Eher hätte er gedacht, die Tochter würde z.B. Yvonne, Vanessa, Lena, Juliane oder Katharina heißen. Und bei der Mutter dachte er an Namen wie Renate, Gabriele, Sabine, Gisela oder Eva.

      „Lasst uns auf die beiden noch einen Moment warten“, sagte Ben, der Reiseführer, der schon seit zehn Jahren Touristen das Heilige Land zeigte. „Für die, die es noch nicht gehört haben: Mein Name ist Ben Schneider. Ich bin für die nächste Woche ihr Reiseguide und freue mich auf die Tage mit ihnen. Wie sie in ihrem Programm lesen konnten, werden wir heute zunächst mit dem Bus – unser Busfahrer, das ist der Tobias – an den Strand von Tel Aviv fahren und von dort nach Jaffa laufen, wo wir uns die Altstadt anschauen. Anschließend holt uns Tobias ab und fährt uns durch Tel Aviv in Richtung Caesarea, eine der bedeutendsten antiken Städte in Palästina. Von dort geht es nach Akko, eine alte Hafenstadt, an der viele der Kreuzfahrer an Land gegangen sind. Hier können alle, die es wollen, mit mir in einem kleinen Restaurant zu Mittag essen. Am Nachmittag fahren wir nach Haifa weiter und werden von dort zum See Genezareth aufbrechen. An dessen Ufer liegt das Kibbuz, in dem wir die kommenden zwei Nächte übernachten. – Ah, die beiden Damen, die gerade aus dem Aufzug kommen, das könnten, wenn wir Glück haben, Maria und Mathilde sein.“

      Stefan drehte sich um und lächelte.

      „Entschuldigung, wir haben unsere Pässe nicht mehr gefunden. Jetzt sind sie aber wieder aufgetaucht. Alles im grünen Bereich“, sagte Maria, während Mathilde neben ihrer Mutter lief.

      Wie bereits im Speisesaal ließen Stefan und Max den anderen den Vortritt und verließen als eine der letzten mit ihren Koffern die Lobby des Hotels. Ihr Busfahrer Tobias, untersetzt, wuscheliges graues Haar und auffällig dienstfertig, nahm ihnen die Koffer ab und verstaute sie. Als Max und Stefan als erste in den Bus einstiegen, hatten sie freie Platzwahl. Insgesamt waren sie nur 21 Personen, so dass der große Bus, der für über 50 Personen ausgerichtet war, viel Freiheit bot. Max wählte die zweite Sitzreihe auf der rechten Seite. Er setzte sich ans Fenster, Stefan neben ihn. Vor ihnen saß das Ehepaar, das gestern mit ihnen die Rückbank des kleinen Buses teilte, mit dem sie vom Flughafen abgeholt wurden. Neben ihnen machten es sich Andreas und Inge gemütlich und zwei Reihen hinter ihnen richteten sich Maria und Mathilde ein. Die Reihe direkt hinter ihnen blieb unbesetzt.

      Ben trug weit geschnittene Jeans und ein kurzärmliges Hemd, das über die Hose hing. Er war braun gebrannt, hatte schwarzes kurzes Haar, das schon begonnen hatte, vom Scheitel bis ungefähr zur Mitte des Kopfes zurückzuweichen. Dagegen hatte er einen starken Bartwuchs. Obwohl er sich erst vor drei Stunden rasiert hatte, sah man bereits die schwarzen Stoppeln. Er hatte einen grünen Militärrucksack dabei, der seine Kleidung, seinen Kulturbeutel und Bücher enthielt. Ließ er diesen im Kofferraum des Buses verstauen, behielt er einen zweiten, kleineren, schwarzen Rucksack bei sich, in dem er alles bei sich hatte, was er tagsüber benötigte.

      „Ben kommt sicher aus Bayern“, sagte Max zu Stefan. „Bist du dir da sicher?“, fragte Stefan zurück, „ich kann bei ihm keinen bayerischen Dialekt raushören.“ Daraufhin fragte Max Ben: „Bist du in Bayern aufgewachsen?“ Ben blickte irritiert, weil ihn die direkte Frage überraschte und weil er verdutzt war, dass allein die Sprachmelodie, in der er Deutsch sprach, verriet, dass er aus Bayern stammte. „Du hast Recht. Ich bin in der Nähe von Rosenheim aufgewachsen.“

      Tobias fuhr den Bus dieselbe Straße entlang, an der Stefan und Max zum Strand gelaufen waren. Sobald das Mittelmeer in Sichtweite war, fuhr Tobias rechts ran und ließ die Reisegruppe aussteigen, nachdem Ben daran erinnert hatte, dass für Mitteleuropäer mit der israelischen Sonne selbst im Oktober nicht zu spaßen sei.

      Ben fragte, ob jemand die Aufgabe übernehmen würde, am Ende der Gruppe zu laufen, damit niemand verloren ginge. Max und Stefan erklärten sich dazu bereit. Das habe unter anderem den Vorteil, dachte Stefan, dass er sich in Ruhe anschauen könne, wer zusammen mit ihnen Israel kennenlernte. Die Sonne zeigte bereits jetzt – gegen halb neun Uhr vormittags –, welche Energie sie besaß. So mussten Stefan und Max nicht lange überlegen, ob sie ihre Leinenhüte im Bus lassen oder aufsetzen sollten. Da die Hüte beide beige mit einer schwarzen Krempe waren, wirkten die beiden, wie sie am Ende der Gruppe liefen, wie zwei langgezogene Schlusslichter.

      Max war überrascht, dass es nicht lange dauerte, bis sie die ersten bitten mussten, sich der Gruppe wieder anzuschließen. Diese hatten ihre Kameras ausgepackt, machten Fotos und waren damit so beschäftigt, dass sie nicht mehr daran dachten oder es ihnen nicht sonderlich wichtig war, Teil einer Gruppe zu sein, die sich langsam von ihnen absetzte. Sie mussten immer wieder daran erinnern, die anderen nicht aus dem Blick zu verlieren, bis ein nonverbales Zeichen ausreichte, die Gruppe zusammenzuhalten.

      Von dieser Aufgabe entlastet konnte sich Ben darauf konzentrieren, die Geschichte von Jaffa zu erzählen. Er war ein begnadeter Reiseführer. Ben glich dem verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Wie dieser ohne Punkt und Komma und mit Begeisterung über Literatur gesprochen hatte, so erzählte Ben mit Verve und Farbe von Jaffa. War Jaffa lange Zeit mehrheitlich von Arabern bewohnt, verdrängten sie die Gentrifizierung und die Touristen zunehmend. In dem Maß, wie der Hafen von Jaffa unbedeutender wurde, entstanden hippe Restaurants am Kai, deren Preise für die einheimischen Araber unerschwinglich waren.

      Am Rande der verwinkelten Altstadt von Jaffa mit den anmutigen Gassen wies Ben seine Gruppe auf den Laden eines Geldwechslers hin. Wer noch Euro in Schekel umtauschen wolle, würde hier einen guten Kurs bekommen.

      Als Stefan den kleinen Laden betreten wollte, sah er im Augenwinkel, dass ihm Mathilde gefolgt war. Geistesgegenwärtig hielt er ihr die Tür auf. Sie lächelte. „Ich brauch‘ auch noch ein paar Schekel. Ich hab‘ ganz vergessen, in Berlin noch zur Bank zu gehen“, sagte sie. Überrascht, zum ersten Mal Mathildes Stimme gehört zu haben, antwortete

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