Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß
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Читать онлайн книгу Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß страница 12
Panzer. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Heute hat er mir solche Fragen gestellt. Ich war lange vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof. Aber Panzer war vor mir da. Wie es mir denn so ginge?, hat er von mir wissen wollen. Ob die Ferien mich auch so angestunken hätten? Was ich denn heute nach der Affendressur so unternehmen würde?
Der Hausmeister hatte den Zirkus schon geöffnet oder vergessen abzuschließen. Ich trabte ins Schulhaus und besuchte die Toilette. Panzer kam mir nach. Er hat sich dicht neben mich gestellt. Er hat gewollt, dass ich sein Ding anfasse. Ich würde staunen, hat er gemeint. 'Nein', habe ich gesagt. 'Kein Bedarf.' 'Los!' hat Panzer gesagt. 'Hab dich nur nicht so zickig, Schorn.' Und er hat meine Hand gefasst. 'Mensch, du bist ja wohl schwul!' habe ich gerufen. Da hat Panzer mir die Luft abgedrückt. 'Sag das noch mal', hat er gesagt. 'Sag das nur noch mal.'
Ich habe mich losgerissen und bin gerannt. Aus der Toilette. Den Flur entlang. Die Treppen hinunter. Auf den Schulhof. Panzer immer hinter mir her. Ich dachte: Kriegt der dich, macht der dich alle!
Da stand der Baum vor mir. Die alte Kastanie. So schnell bin ich noch nie auf einen Baum gekommen. Mit einem Mal saß ich da oben. Panzer stand ganz klein irgendwo da unten. Ich kletterte noch höher, dass die Äste mich gerade noch trugen. Ich setzte mich in eine Astgabel. Die Schule stand weit unter mir. Ich sah nur das Flachdach. Eine Fläche grauer Beton. Dann sah ich über die Schule hinaus. So weit habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal vom Völkerschlachtdenkmal aus, das doch viel höher ist als dieser Baum. Aber es war so. Mir ist schwindlig geworden von der Weite. Dabei habe ich gar nicht viel gesehen. Eigentlich nur Farben. Eine Farbe. Blau. Nein, grün. Das Meer. Ich sagte mir, dass es fünfhundert Kilometer weit weg war. Aber ich konnte es hören. Wie es sang.
Da hörte ich eine Stimme. Von unten. Vom Schulhof. Es war die neue Direktorin, die nach mir rief. Ihre Stimme klang ängstlich. Ich antwortete ihr nicht. Sie wollte, dass ich vom Baum steige. Aber ich wollte nicht herunter. Nicht wegen Panzer. Der hatte sich unsichtbar gemacht. Ich war einfach nur froh, dass ich auf dem Baum war. Mir war, als gehörte ich hier hoch. In die Nähe der Vögel, die mich aufgeregt umflatterten.
Bald war der Schulhof voller Lehrer und Schüler. Sie verrenkten sich die Hälse. Ich sah den alten Hausmann ins Schulhaus schleichen. Und Frau Wendisch rief: 'Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!'
Ich wusste, dass ich jetzt nicht von der Kastanie steigen würde. Ich konnte mich höchstens fallen lassen.
Er segelte an diesem Tag mit der Nacht siebenundzwanzig Meilen und noch ein paar mehr in westlicher Richtung, und zu Beginn der Nacht sahen sie einen herrlichen Feuerzweig vom Himmel ins Meer fallen, vier oder fünf Meilen von ihnen entfernt.
Drei - zwei - eins - null. Aufnahme!
Sechster September. Vierundzwanzig Uhr.
Schon wieder im Bett. Die engen Wände. Das kleine Fenster. Die niedrige Zimmerdecke. Die Standuhr im Wohnzimmer läutet die Geisterstunde ein. Keine Ahnung, wie viel Scheine meine beiden Alten für das Gerät hinblättern mussten. Sie haben es mir nie gesagt. Es hätte den Westminster Gong und was weiß ich noch zu bieten. Nur wenige Leute besäßen so eine Seltenheit.
Der Mann und die Frau liegen längst auf Eis. In ihrem rosa Käfig mit den blauen Tüllgardinen, den sie Schlafzimmer nennen. Sie haben heute eine Viertelstunde früher den Zauberkasten ausgeschaltet. Zehn Minuten hat ihr Bett geknarrt. Nun ist vierzehn Tage Pause angesagt.
Was mich betrifft, ich kriege kein Auge zu. Ich habe heute tatsächlich wieder auf dem Baum gesessen. Keine Ahnung, wie ich das einschätzen soll. Mir geht es gut da oben. Es ist, als hätte ich schon immer da hinauf gewollt. Und seitdem ich auf dem Baum sitze, bemerken mich die Leute. Früher haben sie durch mich gesehen, dass ich mir mit den Fäusten gegen den Denkapparat gehämmert habe. Christa Mällmann hat heute herumgefragt, wer dieser Verrückte da oben auf dem Baum wäre. Bei Neptun, das soll sie bald erfahren.
Er segelte an diesem Tag und in der Nacht weiter nach Westen. Von da an sahen sie viele Büschel sehr grünen Grases, das anscheinend erst vor kurzer Zeit vom Land losgerissen worden war, weshalb alle der Meinung waren, dass in der Nähe eine Insel sein müsse, nicht aber Festland, wie der Admiral sagte: Denn das feste Land vermute ich noch weiter vorn.
Neunter September. Siebzehn Uhr zwanzig.
Ich liege auf der Erde. Am Rand des Tagebaus. Auf dem Rücken liege ich. Mir ist der rote Saft aus der Nase geschossen. Ich habe die Stadt auf dem Rad umkurvt. So lange, bis ich weggekippt bin. Inzwischen ist der Kurzschluss beseitigt. Der Film flimmert noch ein bisschen. In mein Schiffstagebuch schreibe ich gegen den Himmel. Die Schrift ist groß und zittrig. Wie bei alten Leuten.
Fünf Tage sind gestrichen, seitdem ich zum ersten Mal auf den Baum gestiegen bin. An jedem Tag bin ich hochgestiegen. Manchmal bin ich ein paar Stunden da oben geblieben. Manchmal nur ein paar Minuten. Aber hoch musste ich. Ich habe nie geglaubt, dass ich süchtig werden könnte. Ich kenne eine Menge Leute, die es sind. Der Rauch, unser Sportlehrer, denkt, er muss kaputtgehen, wenn er nicht jeden Tag zehntausend Meter wegtritt. Die Frau vom Hausmeister kann sich nur mit Schwarzwäldertorte am Leben erhalten. Und meine beiden Alten sind von vielen Dingen abhängig. Beide vom Zauberkasten. Der Mann von Bier und Zigaretten. Die Frau von Kaffee und Zigaretten. Und wieder beide von der guten Stube. Vom Garten. Von weichen Matratzen und Keilkissen. Vom Wetter. Von ihren Chefs. Immer von irgendwas. Es muss nicht unbedingt die Nadel sein.
Ich hätte nie gedacht, dass einer abhängig werden kann, auf einem Baum zu sitzen und in die Gegend zu sehen. Da oben - das ist nicht zu beschreiben. Nur ein Seefahrer kann das verstehen. Es ist eben wie auf der Pinta im Ausguck. Mehr kann ich darüber nicht sagen, großer Neptun. Es ist einfach schön da oben. Alles erscheint irgendwie erreichbar. Sogar Christa Mällmann. Macht das der Höhenrausch?
Meine beiden Alten werden auf mich warten. Der Mann wird einen Blutdruck um hundertachtzig haben. Er wird sagen, dass ich ihn wiedermal um ein gutes Stück Zeit seines kurzen Lebens betrogen habe. Die Frau wird sagen, wir sollten nicht streiten, wo unser Leben doch so kurz und schwer wäre. Jeden Freitag punkt siebzehn Uhr fahren wir bis Sonntag achtzehn Uhr auf unser Grundstück. Das ist eine Laube und zweihundert Quadratmeter Erde vor der Stadt in einem Gartenverein.
Es ist das erste Mal, dass ich sie warten lasse. Mir tut es leid, dass sie warten müssen, weil sie sich echt freuen auf ihr Wochenende. Ich verstehe sie ja, aber ich verstehe sie auch nicht. Es sind zwei völlig verschiedene Brillen, durch die ich meine Erzeuger sehe. Manchmal könnte ich auf der Stelle abhauen. Dann aber wieder möchte ich ihnen ganz nahe sein. Ich tue keines von beiden. Ich halte einfach nur aus und hoffe, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn ich ihnen nicht zu viel Ärger mache. Aber diesmal kann ich nicht mit ihnen hinterm Zaun sitzen. Ich musste mich aufs Rad schwingen und in die Pedalen treten, bis es mich abwirft. Das ist manchmal so bei mir.
Der alte Hausmann hat mich ins Lehrerzimmer kommen lassen. Gleich nach dem Unterricht. Er ist schon eine Ewigkeit mein Klassenlehrer. Nach jedem Unterricht habe ich vergessen, dass es den alten Hausmann gibt. Oft sogar im Unterricht. Der Alte tut mir leid. Weil er so alt ist. Ich weiß nicht warum. Niemand aus der Klasse spielt ihm einen Streich. Keiner ist wütend auf ihn. Aber es mag ihn auch keiner. Der Alte ist eben da und unser Lehrer. Wenn eine Klassenarbeit angekündigt ist und vor Prüfungen hören wir ihm zu. Er weiß bestimmt eine Menge. Es ist nur, man will es von ihm nicht hören.
Heute