Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß

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Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß

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in eine blühende Wiese, die aber von einem Sumpf getragen wird. Das Schöne taugt nicht für die Pädagogik. Bleibt auf der Straße, die vor euch schon so viele Lehrer gegangen sind. Und haltet euch an ihre Verkehrsregeln."

      Sonja, ich muss Dich sehen, und wenn es nur für einen Augenblick ist, für einen Blick in Deine Augen. Früher habe ich den Leuten auf die Gesichter gesehen, jetzt blicke ich ihnen in die Augen, ich suche - weiß nicht was.

      Der Schulrat hatte sich angesagt, ich kenne ihn von Besprechungen. Palm wohnt in Hannover, er kann nur an den Wochenenden bei seiner Familie sein, aber er nimmt alle Unbequemlichkeiten auf sich, weil er den "Aufschwung des Ostens" als persönliche Herausforderung sieht. Der Mann ist knapp fünfzig und herzleidend, und ich überlege, ob er einen eigenen Neuanfang will, oder ob er sich verlorene Jugend zurückholen möchte. Er ist ein kleiner quirliger Mann mit wohlklingender Bassstimme, die etwas Suggestives hat. Zu jüngeren Frauen ist er freundlich und hilfsbereit, die Männer erkennen an, dass er vor schwierigen Situationen nicht ausweicht, und allgemein wird bestätigt, dass er sich nicht nur gern reden hört, sondern auch zuhören kann. Er entscheidet schnell, man könnte meinen, ohne zu überlegen, auch mich hat er völlig überraschend zur Direktorin vorgeschlagen, wobei seine Vorschläge fast immer schon Beschlüsse sind, denn es widerspricht ihm keiner.

      Was würde Palm sagen, was würde er tun, wenn er den Jungen auf dem Baum entdeckte? Sonja, es ist nicht so, dass ich für mein Leben an der Direktorenstelle hängen würde, aber die Arbeit könnte mir Freude bereiten, es ist die Verantwortung, die mich reizt, vor allem aber ist es wohl, dass ich endlich aus meinem Mädchendasein herauswachsen will.

      Was soll ich tun? Schön oder aber? Abwarten, die Dinge auf mich zukommen lassen, meine Verantwortlichkeit abschieben, verreisen, krank werden, einen Lehrgang besuchen? Ich erzählte Robert von dem Jungen auf dem Baum, er lachte, er begriff nicht, er sagte, die neue Arbeitssituation mache mir zu schaffen, ich solle mich auf das Wesentliche konzentrieren, das andere würde von allein nachziehen. Er bot mir an, mit dem Jungen zu sprechen, von Mann zu Mann, er sehe da kein Problem, der Junge könne ebenso in einer Turnhalle an einem Seil hochklettern. Ich lehnte erschrocken ab; ich wollte von diesem Jungen noch etwas erfahren, weiß nicht was, es war da nur eine Ahnung, ein Duft, eine Farbe vielleicht, ein Blau, nein, ein Grün, es war da ein Anfang, ein dünnes Seil, das über einen Abgrund führt und auf das ich vorsichtig einen Fuß gesetzt hatte.

      Den alten Hausmann sah ich nur noch aus großer Entfernung, ich achtete darauf, ihm nicht zu begegnen, ich schämte mich vor ihm. Einmal lief ich ihm in den Weg, verrückt, wollte ich sagen, schön, als Erkennungszeichen, aber ich stotterte eine Entschuldigung und stolperte weg.

      An Hans Schorn habe ich mich dann doch herangewagt. Wenn er von zu Hause wegkam und nicht einem Ball nachjagte, fuhr er mit dem Fahrrad an den südlichen Stadtrand ins Tagebaugelände, wo auf dem Rest des Stausees noch ein paar Segelboote an der Anlegestelle festgemacht waren. Ich bin ihm auf meinem Rad nachgefahren, der Junge saß in einem der Boote, schaukelte es, zog ein verwittertes Segel auf und gab mit zwei Flaggen Signale ins Tagebaugebiet hinein, aus dem die Bagger wie vorsintflutliche Tiere schrien.

      Als der Junge mich über den Bootssteg heranbalancieren sah, nahm er eine Haltung ein wie ein neuer Schüler auf einem Schulstuhl, verkrampft und steif.

      Ich blieb vor dem Boot stehen, das leicht schaukelte, obwohl der Junge bewegungslos auf der Sitzplanke saß.

      "Grüß dich", sagte ich, empfand die Worte anbiedernd und sagt: "Guten Tag."

      "Guten Tag", erwiderte Hans Schorn höflich.

      "Entschuldige", sagte ich, "dass ich dich hier aufgestöbert habe. Ich hatte als Kind auch einen Lieblingsplatz, vom Bahndamm aus sah ich den Zügen zu."

      Der Junge zeigte keinerlei Regung, ob er mich überhaupt verstanden hatte, ich setzte einen Fuß auf den Bootsrand, verlor das Gleichgewicht, zog das Bein zurück und hielt mich am Geländer fest.

      "Warum ich gekommen bin", sagte ich nun streng, "du weißt es, so geht das nicht weiter, du da oben auf dem Baum und wir anderen da unten auf der Erde. Alle Menschen müssen sich schließlich an bestimmte Regeln halten, sonst gibt es keine Gemeinschaft."

      Himmel, Sonja, so dumm kann man sein, und so klein kann man sich machen, wie oft hatte ich wohl schon solchen Unsinn von mir gegeben, ohne es zu merken. Für einen Augenblick war mir, als säßen in dem kleinen Boot eine Menge Menschen, Kinder und Erwachsene, die mich so abweisend ansahen wie Hans Schorn, dieser unscheinbare, blasse Junge mit Augen, die irgendwie ins Weite zu blicken schienen. Er ist noch ein Kind, sagte ich mir, du lässt dich täuschen, sein Lebensraum ist eng begrenzt, du musst nur die richtigen Worte finden, ihn zurechtweisen, ohne ihn mehr als notwendig zu verletzen.

      "Nun hör mir mal zu", sagte ich, "du lässt uns ja keine Wahl, kannst du denn nicht sein wie alle anderen, oder gefällt es dir, außerhalb zu stehen und von allen verlacht zu werden...?"

      Keine Ahnung, was ich noch alles von mir gegeben habe, jedenfalls klang es wie Wenn du nicht sofort ...!, ich bereute, dass ich hierher gekommen war. Hans Schorn saß im schaukelnden Boot, ich stand auf dem Steg, ich erreichte ihn nicht.

      In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich während des Studiums und als Lehrerin etwas nicht begriffen oder nicht erfahren hatte, vielleicht das Wichtigste, nämlich einen Andersdenkenden und -fühlenden zu verstehen, und ich dachte an Robert und dass wir uns immer fremd bleiben würden.

      Ich wollte so nicht weggehen, mein Trotz war hellwach, ich musste es schaffen, den Jungen erreichen, egal wie, so konnte, so durfte ich nicht gehen.

      "Rede du", sagte ich, "also ich höre dir zu."

      Aber der Junge schwieg, das Boot wiegte ihn, aus dem Tagebau kamen Schreie wie aus längst vergangener Zeit, ich hatte das Bedürfnis mitzuschreien, hemmungslos zu schreien.

      Ich weiß nicht, ob ich die Frage Warum sitzt du auf dem Baum? wirklich ausgesprochen habe, es dämmerte schnell, Scheinwerfer flammten auf, ich sagte: "Lassen wir das. Mein Wort drauf."

      Ich ging zu meinem Fahrrad und schob es auf der Landstraße der Stadt entgegen. Dann war Hans Schorn neben mir, er saß auf dem Rad und blieb mit mir auf gleicher Höhe.

      "Ja", sagte ich, "ja!", aber da fuhr er davon, aus dem Sattel steigend und über den Lenker gebeugt.

      Ich habe mich in eine Eckkneipe gesetzt und Wasser getrunken, ein Glas nach dem anderen, ich war wie ausgebrannt, der Wirt und all die Männer haben mich neugierig beobachtet, gegen Mitternacht habe ich Robert angerufen, dass er mich abholt. Er hat mir keine Vorwürfe gemacht, er hat überhaupt nichts gesagt. Robert ist der Meinung, im Leben muss man die Dinge kommen und gehen lassen, alles sei Rhythmus, anders in der Wissenschaft, dort müssten die Dinge vorangetrieben werden mit der Peitsche des Intellekts. Bestimmt hatte er recht, aber ich wollte mich dagegen wehren, Robert verletzen, um seine Unbeherrschtheit zu erfahren und vielleicht einen guten Grund zu erhalten, ihn zu verlassen. Ich empfand mich undankbar und schuldig, ich sah in das strenge Gesicht meines Vaters, in die abgeklärten Gesichter meiner Lehrer, ich saß neben Robert im Auto und presste die Lippen aufeinander.

      Liebe Sonja, wenn ich nur wüsste, was ich dir eigentlich mitteilen will, was ich dich fragen will.

      Als Palm, der Schulrat, kam, saß Hans Schorn auf der alten Kastanie. Ich hatte es nicht verhindern können, und vielleicht hatte ich es auch nicht verhindern wollen, es war ein schmerzlicher Wunsch in mir nach einem großen Knall.

      Und stell dir vor, der alte Lehrer Hausmann, dem ich nicht zugetraut hätte, dass er eine Bockleiter gefahrlos besteigt, kletterte auf den Baum. Der Alte und der Junge, Lehrer

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