Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß

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Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß

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bin, dass sie einander nicht ausstehen konnten und bestimmt jeden Morgen schadenfroh die Pickel im Gesicht der anderen zählten. Wir nannten sie die heiligen Kühe, weil der Dekan sie bei jeder Versammlung als Zierde der Studentenschaft ausstellte und uns zur Anbetung solcher Leistungen auf die Knie zwingen wollte.

      Ich weiß, ich bin ungerecht, aber ich muss es sein, mir ist danach, es hat etwas Befreiendes und schmeckt zuckersüß. Weißt du noch, weißt du noch? Ich schlief im unteren Bett und du im oberen, und wenn eine von uns großen Kummer oder große Freude hatte, schliefen wir zusammen in einem Bett, bei Freude im oberen, bei Kummer im unteren, oder war es umgekehrt? Weißt du noch, wie oft du dachtest, du wärst schwanger, du wolltest schnell Erfahrungen sammeln, damit du in dieser Männerwelt dich als Frau behaupten lernst. Du sagtest: Macht ist eine Frage des Unterleibs. Oh Himmel, Sonja, du glaubtest fest daran, Mädchen, bis zu deiner ersten Abtreibung.

      Und ich redete viel von Hingabe, hoffte auf den einen Richtigen, hatte infantile Phantasien vom Märchenprinzen, trotz aller Emanzipationsideale. Und tatsächlich, eines Tages kam er, Redford in einem altersklapprigen Golf, der mir als vergoldete Luxuslimousine erschien, Jazzliebhaber, heimlicher Dichter und mit einer Schwäche für westlichen Luxus. Oh, war ich hin! Wer sich das vorstellen kann, ein halbes Jahr gab es mich nicht mehr. Von wegen Befreiung, hast du gesagt, totale Unterwerfung, völlige Selbstaufgabe wegen dieser bescheuerten Orgasmen, die einen vergessen machen, dass eins und eins zwei und zwei weniger eins immerhin noch eins ist. An mich solle ich endlich wieder denken, ich müsse bestimmen, wann, wo und wie ich Lust empfangen wolle, täglich hundertmal solle ich ICH! schreiben.

      Nicht ein einziges Mal hab ich Ich! geschrieben, nicht einmal ich gedacht hab ich, oh Himmel, ich war handzahm geworden, aber begriffen habe ich nichts, bis es kam, wie es mit so einer Geschichte eben immer kommen muss. Peng! hast du gesagt. Aus der Traum. Redford hat eine andere, dafür hast du dich wieder. Das ist nur gerecht. Lernen wir daraus, sagen die Pädagogen.

      Weißt du noch, weißt du noch? Was wir alles wollten, nie heiraten, jede drei Kinder haben, zwei Mädchen und einen Jungen, oder doch lieber zwei Jungen und ein Mädchen, uns nie vor der Wahrheit fürchten, uns für unsere Überzeugungen einsetzen, nie Fett ansetzen, in jeden Zirkus gehen, einander ohne Parfüm riechen können, unsern Schülern ein tragfähiges Rückgrat anerziehen und ihnen ein Mundwerk bilden helfen, durch das die eigene Meinung findet ...

      Ja, es ist etwas passiert, Sonja, eben das mit diesem Jungen, der auf diesem Baum sitzt, und ich kann nichts mehr begreifen. Ich will dir erzählen, was da vor sich geht, aber vorher muss ich dir noch sagen, wie ich lebe, wer und wie ich bin, oder richtiger: wie ich lebte, wer und wie ich war. Denn ich weiß nicht mehr, wie ich leben soll und wer und wie ich bin. Und das alles, stell dir vor, wegen dieses dummen Jungen auf diesem Baum!

      Weißt du noch, wie wir gefeiert haben, als wir unser Diplom bekommen hatten? Wir fuhren noch zusammen in die Ferien, zelten an der Ostsee, dann mussten wir an unsere Schulen, du zurück ins Thüringische, und ich blieb in der Stadt.

      Ich kam in eine Schule, die sich vor Altersschwäche kaum noch auf den Beinen halten konnte und sich mit Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit ein eisernes Stützkorsett angelegt hatte. Im Schulhaus und den Klassenzimmern roch es nach Rheumamittel, Baldrian und Knoblauch. Obwohl der Putz von den Wänden bröckelte und die Nässe bis in die oberen Stockwerke gestiegen war, glänzten das rissige Linoleum und die Fensterscheiben, und nirgendwo lag auch nur ein Schnippselchen Papier herum. Die Schüler blieben mir eigenartig gesichtslos, ich hatte Mühe, mir ihre Namen zu merken, und oft kam es zu Verwechslungen. Im Lehrerkollegium wurde ich "mein Mädchen" genannt, die Alten streichelten mir über die Haare, sie kochten Kaffee für mich und steckten mir Süßigkeiten zu. Ich fühlte mich ihnen gegenüber verpflichtet und auch schuldig, als würde ich sie insgeheim betrügen. Überhaupt kam mir unser Lotterleben im Internat wie ein Betrugsversuch an unseren Eltern vor. Ich war plötzlich wieder das Kind meiner Eltern, die mir mit ihrer besorgten Frage "Wie geht's?" sagten: "So geht's."

      Es geriet ja gerade die Welt aus den Fugen damals im Herbst neunundachtzig. Wendezeit. Ich rief dich an, jeden Tag; aber du warst nicht zu erreichen. Ich wollte dich fragen, ob du wüsstest, was da eigentlich los sei? Am Anfang stand ich am Straßenrand und sah zu, wie die nicht enden wollende Menschenschlange durch die Stadt zog, manchmal stumm, ein andermal schreiend. Es wurde erwartet, dass auf sie geschossen würde, und doch gingen sie Montag für Montag diesen gemeinsamen Weg. Ich war fasziniert wie von einem Abenteuer, das wie ein Film vor mir ablief. Schauer kitzelten meinen Rücken, und so ein Prickeln war im Bauch und ein schwacher Schmerz hinter der Stirn. Da holten sie uns zusammen, junge Genossen, und sie sagten uns, was wir zu tun hatten: den Weltfrieden retten. Weißt du, eigentlich bin ich nur mitgelaufen, so lange ich denken kann, eben auch damals an diesen Montagabenden. Ich habe bei den Demonstrationen blind in die Menge fotografiert. Und ich habe irgendwelche Namen weitergemeldet, Müllers und Krauses. Ich habe niemand anrempeln können, und so bin ich selbst umgestoßen worden. Keine Ahnung, warum ich mich so verhalten habe. Oder doch? Vielleicht war ich feige. Vielleicht mutig. Und dann stand ich dir gegenüber. Meiner besten Freundin. So nahe waren wir uns noch nie. Und vor allem so weit voneinander entfernt. Die eine sah in der anderen die Verräterin. Ich wusste nicht, hattest du oder hatte ich den Verrat begangen. Ich war völlig durcheinander, und ich spürte nur Wut, ja Hass. Wir hatten doch beide fest an den Kommunismus geglaubt, die einzig mögliche menschenwürdige Gesellschaftsform, wie man uns gelehrt hatte. Bei den Vorbeimärschen an den Tribünen hatten wir im Chor der Tausende "Hurra!" gerufen. "Es lebe die Sozialistische Einheitspartei, die führende Kraft der Arbeiterklasse!"

      Ich sagte dir doch, ich bin wohl immer nur mitgelaufen. Ich habe die Hand festgehalten, die mich mitzog. Selbstmitleid? Nein, nein, ich habe es ja gebraucht, irgendwie, die Berührung, das Führen lassen. Es hat mir nur niemand beigebracht, wie man wieder loslässt.

      Die Wende passierte, ohne dass sich in mir wirklich was änderte. Ich wartete täglich auf ein tiefes Erschrecken oder eine überwältigende Freude; aber in mir passierte nichts, Sonja, ich musste mich nicht ändern, umstellen oder anpassen - ich blieb unverändert, nur das verunsicherte mich.

      Ich zog wieder zu meinen Eltern. Abends dann, im Kinderzimmer, in dem die Puppen auf dem Regal saßen wie seit Ewigkeiten und hämisch auf mich herabgrinsten, habe ich versucht, dir zu schreiben. Aber ich wusste nicht, was ich dir sagen wollte. Deine Briefe habe ich verbrannt. Ich hatte nicht den Mut sie zu lesen. Vielleicht würdest du mir etwas sagen, dass mein ganzes bisheriges Leben in Frage stellt. Ich wollte aber keine Fragen hören. Ich brauchte eine Antwort, für meine Schüler, für mich selbst.

      Ich trainierte das Vergessen, das Abschalten, verstehst du? Alles ist Training, alles, sage ich dir. Man muss nur die richtigen Zauberformeln kennen und sie oft genug aufsagen. Gestern und morgen ist jetzt. Zum Beispiel das. Oder das: Du bist wie ein Fels in der Brandung. Alles prallt von dir ab. Und so weiter. Bald war mir alles wieder so klar und einfach wie in meiner Kindheit, ich musste eben nur brav sein. Das Gefühl, wieder gutmachen zu müssen, eine alte Schuld zu begleichen, wurzelte wieder fest in mir. Ich bekam viel Lob, von meinen Eltern, von den Kollegen, ich wurde zu Lehrgängen geschickt, es hieß "Unsere Kleine macht sich", und ich fühlte mich gut, wirklich nicht schlecht, und erst jetzt fällt mir auf, dass ich viel gelächelt, aber nie gelacht habe.

      "Du bist gereift", sagte Vater und legte mir seine magere Hand auf die Schulter. Bestimmt zitterte ich und nicht er, und ich dachte: Ja, er hat recht, ich bin alt geworden. Und stell dir vor, ich war froh darüber, denn so war ich den Alten, die mich mochten und mir Sicherheit signalisierten, näher.

      Eins kam zum anderen. Du, ich weiß, wovon ich rede, ich habe es erlebt, wie so etwas geht. Ich lernte einen Mann kennen auf meinem morgendlichen Weg zur Straßenbahn. Wir wären aneinander vorbeigegangen, wie bestimmt schon oft, wenn ich nicht gestolpert wäre und er mich nicht am Oberarm festgehalten hätte. Zufall oder Notwendigkeit, da war sie wieder, eine Hand, die mich hielt. Er hat den gleichen Vornamen wie Redford, Robert also, einssechsundachtzig, schlank, sportlich, Akademiker, mit Sinn

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