Schilfrohr im Winde. Grazia Deledda

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Schilfrohr im Winde - Grazia Deledda

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geheimnisvollen Tiefen des Wassers späht.

      Wie schwer diese Erinnerungen sind! Schwer wie der volle Wassereimer, der in die Tiefe zieht, in den schwarzen Brunnenschacht hinab.

      Doch als Efix nun wieder aufblickte, sah er, dass die große, schlanke Frauengestalt, die leichten Schritts auf den Balkon trat und die Ärmelbündchen ihres schwarzen, fein gefältelten Mieders zu hakte, nicht Lia war.

      »Ah – Fräulein Noemi! Guten Tag, Herrin! Kommen Sie nicht herunter? «

      Mit schwarzem, golden schimmerndem Haar, das sich in zwei breiten Flechten um ihr blasses Gesicht schmiegte, beugte sie sich über das Geländer, dankte ihm mit einem flüchtigen Blick aus ihren schwarzen, gleichfalls golden unter den langen Wimpern schimmernden Augen für seinen Gruß, sprach aber kein Wort und kam auch nicht herunter.

      Sie öffnete Türen und Fenster – heute war ja keine Gefahr, dass ein Windstoß sie zuschlage und die Scheiben zertrümmere, die übrigens schon seit vielen Jahren fehlten – und breitete sorgsam eine gelbe Decke in die Sonne.

      »Kommen Sie nicht herunter, Fräulein Noemi? « wiederholte Efix, der noch immer zu ihr empor sah.

      »Doch, doch, gleich.«

       Aber wieder strich sie sorgsam die Decke glatt und schien versonnen auf die Landschaft zur Rechten und zur Linken zu blicken, die in wehmütiger Schönheit vor ihr ausgebreitet lag: auf die weite Sandebene, durchbrochen vom glitzernden Band des Flusses, von Pappelreihen, von niedrigen Erlen und Schilf- und Wolfsmilchflächen, auf die düstere Basilika inmitten des Brombeergestrüpps, auf den alten Kirchhof, wo zwischen dem hellen Grün des wuchernden Grases wie weiße Margueriten die Gebeine der Toten schimmerten, und auf die trotzige Burgruine auf dem Hügel in der Ferne.

      Noch immer lagerte die Vergangenheit düster über der Gegend. Aber Noemi ließ sich dadurch nicht traurig stimmen; seit frühester Kindheit war sie daran gewöhnt, dort drüben die Gebeine der Toten bleichen zu sehen, die im Winter zu frieren schienen in der fahlen Sonne und auf denen im Frühjahr der Tau blinkte. Niemand dachte daran, sie fortzuschaffen; weshalb also hätte sie daran denken sollen?

      Fräulein Esther aber, die langsam und in sich gekehrt aus der neuen Kirche im Dorf zurückkommt, bekreuzt sich, als sie zu dem alten Friedhof gelangt, und spricht ein Gebet für die toten Seelen.

      Esther vergisst niemals etwas und hat ein Auge für alles. Und so bemerkt sie, als sie nun den Hof betritt, dass irgendjemand Wasser geschöpft hat aus dem Brunnen, und stellt den Eimer an seinen Platz; dann entfernt sie ein Steinchen aus dem Goldlacktopf, geht in die Küche, begrüßt Efix und fragt ihn, ob er schon seinen Kaffee bekommen habe.

      »Ja, ja – schon lange, Herrin.«

      Inzwischen war auch Noemi mit dem Telegramm in der Hand heruntergekommen. Aber sie entschloss sich nicht, es vorzulesen; es bereitete ihr fast ein heimliches Vergnügen, die bange Neugier des Knechts auf die Folter zu spannen.

       »Esther«, sagte sie und setzte sich auf die Bank neben dem Herd, »warum legst du dein Tuch nicht ab?«

      »Heute Vormittag ist Messe in der Basilika, ich gehe gleich wieder. So lies doch vor!«

      Auch Esther setzte sich auf die Bank, und Fräulein Ruth folgte ihrem Beispiel. Und wenn die drei Schwestern so nebeneinandersaßen, sahen sie sich seltsam ähnlich; nur daß sie eben drei verschiedene Lebensalter verkörperten: Noemi die Jugend, Esther die Reife und Ruth das Alter – ein rüstiges, von heiterer Ruhe verklärtes Alter.

      Der Knecht war vor sie hingetreten und wartete; aber nachdem Fräulein Noemi das gelbe Papier auseinandergefaltet hatte, betrachtete sie es starr, als wenn sie die Worte darauf nicht entziffern könnte, und schüttelte es schließlich ärgerlich in der Hand.

      »Nun, er telegraphiert, dass er in wenigen Tagen hier sein wird. Das ist alles.«

      Sie erhob die Augen und errötete, als ihr strenger Blick auf Efix' Gesicht fiel; auch die beiden anderen schauten ihn an.

      »Verstehst du? Ganz so, als wenn er hier zu Hause wäre.«

      »Was sagst du dazu?« fragte Fräulein Esther, mit einem Finger durch den Spalt des Tuches zeigend.

      Efix leuchtete über das ganze Gesicht; die vielen kleinen Fältchen um seine lebhaft blitzenden Augen sahen wie Strahlen aus, und er versuchte seine Freude nicht zu verbergen.

      »Ich bin zwar nur ein armer Knecht, aber ich sage mir, der Himmel weiß schon, was er tut.«

       »Gottlob, endlich einmal ein vernünftiges Wort«, sagte Fräulein Esther.

      Noemi aber war wieder totenbleich geworden. Entrüstete Worte drängten über ihre Lippen, und obgleich sie sich wie immer vor dem Knecht zu beherrschen verstand – sie gab übrigens nicht viel auf seine Meinung –, erwiderte sie doch:

      »Damit hat doch der Himmel nichts zu tun, und darum handelt es sich ja auch nicht. Es handelt sich«, setzte sie nach kurzem Zögern hinzu, »ja, es handelt sich darum, ihm kurz und bündig zu antworten, dass in unserem Haus kein Platz für ihn ist.«

      Da breitete Efix die Arme aus und beugte ein wenig den Kopf zurück, als wollte er sagen: Nun, weshalb fragt ihr mich dann um Rat?

      Esther aber lachte scharf auf, erhob sich und schlug zornig die schwarzen Zipfel ihres Tuches zurück. »Und zu wem soll er dann gehen? Vielleicht zum Herrn Pfarrer, wie die Fremden, die kein Obdach finden?«

      »Ich würde ihm eher überhaupt nicht antworten«, schlug Fräulein Ruth vor und nahm Noemi das Telegramm aus der Hand, das diese unruhig immer wieder auf- und zu faltete. »Kommt er trotzdem, so ist's gut. Dann können wir ihn wie jeden Fremden aufnehmen. Tritt ein, bring Glück herein!« setzte sie hinzu, als wenn sie einen in die Tür tretenden Gast begrüßen wollte. »Und wenn er nicht gut tut, ist es noch immer Zeit, ein Wort zu sagen.«

       Aber Esther sah lächelnd ihre Schwester an, die die schüchternste und unentschlossenste von allen dreien war, neigte sich auf sie zu und legte die Hand auf ihre Knie: »Ihn fortzujagen, meinst du wohl? Ausgezeichnet, liebe Schwester! Und wirst du das Herz dazu haben, Ruth?«

      Efix überlegte. Plötzlich hob er den Kopf und legte die Hand beteuernd an die Brust.

      »Dafür werde ich schon sorgen«, versprach er feierlich.

      Da begegneten seine Augen denen Noemis, und er, der stets Angst hatte vor diesen hellen, kalten, abgrundtiefen Augen, begriff, dass die junge Herrin sein Versprechen ernst nahm.

      Doch er bereute es nicht. Er hatte ja schon ganz andere Verantwortungen auf sich genommen in seinem Leben.

      Er blieb den ganzen Tag im Dorf.

      Zwar war er unruhig wegen des Gutes – obwohl es in dieser Jahreszeit dort wenig zu stehlen gab –, aber ihm schien, dass ein heimlicher Zwiespalt seine Herrinnen bekümmerte, und er gedachte nicht aufzubrechen, bevor er sie nicht einig sah.

      Fräulein Esther räumte in der Küche auf und ging dann wieder fort, um sich in die Basilika zu begeben. Efix versprach, bald nachzukommen; aber als Fräulein Noemi nach oben ging, trat er wieder in die Küche und bat Fräulein Ruth, die auf dem Boden kniete und etwas Teig auf einem niedrigen Schemel knetete, leise um das Telegramm. Sie hob den Kopf und schob mit der mehlbestäubten Faust das Tuch aus der Stirn.

      »Hast

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