Schilfrohr im Winde. Grazia Deledda

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Schilfrohr im Winde - Grazia Deledda

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die Griffe der Ziehharmonika glitzern und funkeln; alles andere verschwimmt im Perlmutterglanz der Mondnacht.

      Noemi erinnerte sich, dass sie nie teilgenommen hatte an dem bunten Trubel, indes die älteren Schwestern lachten und sich vergnügten und Lia scheu in einem moosigen Winkel des Hofes kauerte, als hätte sie schon damals auf Flucht gesonnen.

      Das Fest dauerte neun Tage und steigerte sich zuletzt beim Klang der Ziehharmonika und fröhlicher Gesänge zu einem ausgelassenen, ununterbrochenen Reigen. Noemi aber stand immerfort auf der Aussichtswarte, zwischen den Überresten des Gelages; um sie her schimmerten die leeren Flaschen, ein zerbrochener Teller, ein grasgrüner Apfel, ein vergessener Eimer oder Löffel; auch die Sterne über dem Hof erzitterten wie unter den stampfenden Takten des Reigens. Nur sie tanzte nicht, nur sie lachte nicht und hoffte doch beim Anblick der fröhlich wirbelnden Menge, dass auch sie noch einmal teilnehmen dürfte an den Freuden des Lebens.

       Aber die Jahre vergingen, des Lebens Freuden spielten sich fern von dem Dörfchen ab, und um sie genießen zu können, war ihre Schwester Lia schließlich aus dem Haus entflohen ...

      Sie aber saß noch immer auf der morschen Veranda des alten Hauses, wie damals auf der Warte des Pfarrers.

      Gegen Sonnenuntergang klopfte es am Tor, das sie immer geschlossen hielt.

      Es war die alte Muhme Pottoi, die sich erkundigte, ob sie ihrer Dienste nicht bedürfe; und obgleich Noemi sie nicht zum Dableiben aufforderte, setzte sie sich auf die Erde, mit dem Rücken zur Wand, lockerte ihr Tuch über dem buntgeschmückten Hals und begann wehmütig von dem Fest zu plaudern.

      »Alle sind nun dort – auch meine Enkel, der Herr behüte sie. Ach ja, alle sind nun dort und haben es hübsch kühl, mit dem Meer vor Augen ...«

      »Und weshalb sind Sie nicht auch hingegangen?«

      »Und das Häuschen, Euer Gnaden? Nein, so armselig ein Haus auch ist, man soll es nicht ganz allein lassen; sonst nistet sich der Irrwisch ein. Es ist nun einmal so: Die Alten hüten das Haus, die Jungen gehen sich vergnügen.«

      Sie seufzte, senkte das Gesicht, um die Korallen auf ihrer Brust zu betrachten und zu ordnen, und erzählte, wie sie früher auch zum Fest gegangen sei – mit ihrem Mann, ihrer Tochter und den lieben Nachbarinnen. Dann sah sie wieder auf und blickte nach dem alten Friedhof.

       »In diesen Tagen ist mir immer, als stünden die Toten wieder auf. In einem langen Zuge sehe ich sie zum Fest pilgern. Und ich glaube auch wie einst Frau Maria, Ihre Mutter selig, auf der Bank im Winkel des großen Hofes sitzen zu sehen. Wie eine Königin sah sie immer aus mit ihrem gelben Rock und ihrem schwarzen, buntbestickten Tuch. Und wie Mägde saßen alle Frauen aus der Gegend um sie herum ... ›Komm, Pottoi,‹ sagte sie dann immer zu mir, ›versuch einmal diesen Kaffee. Nun, wie schmeckt er dir? Gut?‹ – Ja, so gütig, so freundlich war sie immer. Ach, und deshalb gehe ich lieber nicht mehr hin; mir scheint, ich habe dort etwas verlassen, was ich nicht wiederfinde ...«

      Noemi nickte lebhaft und beugte sich tief über ihre Handarbeit; die Stimme der Alten tönte wie aus ferner Vergangenheit an ihr Ohr.

      »Und erst Don Zame, Euer Gnaden! Der war die Seele des Festes. Er fluchte zwar öfters, fuhr wie ein Unwetter zwischen die anderen, war aber im Grunde doch herzensgut. Auf Sturm folgt eben stets Sonnenschein. Ach ja, neulich, als ich vor meinem Häuschen saß und Flachs spann, da glaubte ich auf einmal den Hufschlag eines Pferdes zu hören. Und richtig, da kommt er auch schon angeritten, auf seinem Rappen, mit prallgefüllten Quersäcken ... Er trabt vorüber und nickt mir freundlich zu: ›He, Muhme Pottoi, möchtest du mitkommen zum Fest? Flugs aufgesessen, alte Hexe!‹«

      Gerührt ahmte sie die Stimme des »erlauchten Toten« nach; dann fragte sie plötzlich, ihre Gedanken weiterspinnend:

      »Und der junge Herr Giacinto kommt nun wohl doch nicht her?«

       Da erstarrte Noemi; denn sie gestattete keinem Menschen, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen.

      »Wenn er kommt, soll er uns willkommen sein«, erwiderte sie kühl. Aber als die Alte gegangen war, griff sie den Faden ihrer Gedanken auf. Und wieder lebte sie so tief in der Vergangenheit, dass sie der Gegenwart wie entrückt war.

      Und während der warme Schatten des Hauses weiter und weiter durch den Hof glitt und der Duft der Wolfsmilch süßer und süßer aus der Ebene heraufwehte, erinnerte sie sich immer klarer an Lias Flucht. Es ist ein milder Abend, genau wie heute; der weiss und grün gescheckte Berg lastet schwer auf dem Haus, der Himmel ist wie aus blankem Gold. Lia weilt in den oberen Räumen und huscht lautlos hin und her; dann tritt sie auf die Veranda, bleich, in einem schwarzen Kleidchen, mit dunklem Haar, in dem sich ein Abglanz des goldblauen Himmels fängt; sinnend blickt sie auf die Schlossruine, schlägt dann plötzlich die schweren Lider auf, zuckt zusammen und hebt die Arme, als wenn sie sich wie eine Schwalbe emporschwingen wolle ins goldene Blau. Langsam kommt sie nun herunter, geht an den Brunnen, besprengt die Blumen, und indes sich in der Luft der zarte Duft des Goldlacks mit dem herberen der Wolfsmilch mischt, tauchen über dem Berg die ersten Sterne auf.

      Und nun geht sie wieder nach oben und setzt sich auf die oberste Treppenstufe, die Hand auf dem Seil, die Augen starr in die Dämmerung gerichtet.

       Noch immer sah Noemi sie dort sitzen, wie an dem letzten Abend, als sie an ihr vorüberschritt, um schlafen zu gehen. Sie schliefen zusammen in einem Bett, aber an diesem Abend hatte sie vergeblich auf sie gewartet. Wartend war sie schließlich eingeschlummert und wartete nun noch immer.

      Alles andere wirbelte verworren durch ihre Erinnerung, unsäglich bange Stunden und Tage voll geheimnisvollen Grauens, wie man sie nur im Fiebertraum erlebt ... Sie sah nur noch das fahle, verzerrte Gesicht des Knechts, der regungslos, mit hängendem Kopf zu Boden sah, als suchte er dort einen verlorenen Gegenstand.

      »Ruhig Blut, Herrinnen!« murmelte er; aber dann rannte er selbst durchs Dorf, fragte alle, ob sie Lia nicht gesehen hätten, schaute in alle Brunnen und spähte in die Ferne.

      Und dann war Don Zame heimgekehrt.

      Bei dieser Erinnerung ging es wie ein Sturm durch Noemis Geist. Jedes Mal überkam sie dann das Verlangen, sich loszureißen – fortzueilen, wie um den schrecklichen Bann zu brechen.

      Und so erhob sie sich und ging nach oben in ihr Zimmer.

      Das gleiche Zimmer, in dem sie einst mit Lia schlief; das gleiche rostige Eisenbett, bemalt mit längst verblassten goldenen Blättern und Trauben, von denen nur da und dort noch eine rot oder bläulich schimmert wie eine wirkliche Beere; die gleichen weißgetünchten Wände, die gleichen Bilder in den schwarzen Rahmen; der gleiche wurmstichige Schrank, auf dem Orangen und Zitronen wie goldene Äpfel in der untergehenden Sonne leuchten.

       Noemi öffnete den Schrank, um ihre Stickerei zu verwahren, und die Angel kreischte wie eine zerspringende Saite durch die Stille, während die nun schon strahlenlose Sonne einen rosigen Schein auf das Linnen in den blaubespannten Fächern warf.

      Alles dort drinnen war fein säuberlich eingeordnet: zuoberst einige Stickereien, Seidentücher und Wolldecken, die safrangelb geworden waren im Lauf der Zeit; darunter die nach frischen Quitten duftende Wäsche und etliche Binsen- und Weidenkörbchen, von deren gelbem Geflecht sich schwarz die Sinnbilder der sardischen Volkskunst abhoben: kleine Schalen und Fische.

      Noemi legte ihre Handarbeit in eines von diesen Körbchen und hob ein anderes auf. Darunter lag ein Bündel Papiere: Familienurkunden, Tauf- und Trauscheine, Vermächtnisse und Prozessakten, die sorgsam mit einem gelben Bündchen zusammengeschnürt waren, zum Schutze gegen bösen Zauber. Und

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