Johann Gabb. Thomas Pfanner

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Johann Gabb - Thomas Pfanner

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Misere für Deutschland besteht in der Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration. Über die mangelnden Erklärungen und die Verweigerung von Diskussionen berichten zahlreiche Bücher der Nachkommen. Das macht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schwierig.

      Manchmal frage ich mich allerdings, ob wir, die Nachkommen, in unserer Empfindlichkeit nicht ein wenig zu weinerlich sind. In der Schule beschäftigte ich mich einst mit dem Dreißigjährigen Krieg. Deutsche und alle Sorten Ausländer massakrierten sich nach Kräften und hätten es auch beinahe geschafft, alle weiteren Probleme für immer zu beseitigen. Die Hälfte der Bevölkerung war am Ende tot, der Rest traumatisiert, vergewaltigt, gefoltert, ausgehungert. Nebenbei bemerkt haben sich die Schweden übrigens nie dafür entschuldigt, halb Mitteldeutschland ausgerottet zu haben.

      Die Menschen damals sind nicht zusammengebrochen und noch nicht einmal wenigstens ein halbes Jahrhundert außerstande gewesen, sich an irgendwelchen Kriegen zu beteiligen. Kurz danach ging es schon wieder munter weiter, nur knapp konnte die vereinte Christenheit vor Wien verhindern, dass der ganze Laden von den Osmanen übernommen wurde.

      Nun ja, nach einigem Nachdenken kommt mir der Verdacht, dass den einfachen Leuten schlichtweg keine Wahl blieb. Die hohen Herren lebten noch und nahmen keine Rücksicht auf die Nöte der Leute. Außerdem wurde damals auch ohne Krieg schnell und viel gestorben, für den Einzelnen mochte der Unterschied vielleicht nicht so gravierend sein. Wie mein Internats-Leiter zu sagen pflegte: »Wenn du ermordet wirst, ist es für dich persönlich gänzlich ohne Belang, ob dein Mörder ein Kommunist, ein Faschist, ein Atheist, ein Fundamentalist oder einfach nur ein Räuber ist. Für deinen Mörder mag es ein Unterschied sein, für dich nicht. Du bist tot, so oder so.«

      Wie auch immer, spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg kann es so etwas wie eine arische Rasse gar nicht mehr gegeben haben. Alle Soldaten aller Länder haben zu allen Gelegenheiten die Frauen vergewaltigt und ihre Kinder hinterlassen. Eine einheitliche deutsche Rasse kann es somit nicht mehr geben. Die behauptete Abstammung von einer wie auch immer gearteten nordischen Rasse konnte man zu keinem Zeitpunkt im Straßenbild wiederfinden. Oder wann hat man zuletzt ein Rudel hünenhafter blonder Männer gesichtet? Wenn ja, dann stammten die garantiert aus der Ukraine, da ist der Anteil der Blonden höher als in Deutschland.

      Überhaupt: Hitler, Goebbels, Röhm. Die sahen doch alle genauso aus wie die damaligen Fahndungsbilder mit den sogenannten Volksschädlingen drauf. Verkümmert, verkrüppelt, verblödet, schwul. Das ist wohl das eigentlich Verstörende an der Nazi-Zeit: Man kann einem redegewandten Verführer auf den Leim gehen, man kann sich bequatschen lassen von eloquenten Verkäufern, den falschen Argumenten aufsitzen, alles Mögliche kann schief gehen. Aber diesen Knallchargen abkaufen, die Anderen seien die Knallchargen?

      Vorläufig kann ich darauf keine Antwort finden. Mein Opa kommt aus Ungarn, er hat Hitler definitiv weder gewählt noch herbeigesehnt. Damals gab es kein Fernsehen im Dorf, er hatte bis 1943 nie eine Rede dieses Herrn gehört. Er hielt den Mann für einen Österreicher, wunderte sich, warum der Kerl in Deutschland zum Kanzler gewählt werden konnte.

      Der plötzliche Drang zu reden weckt auch bei mir zahllose Fragen.

      Wie auch immer, aktuell geht es mir um das Leben meines Großvaters. Die wenigen Bruchstücke sollen zu einem Bild zusammenwachsen. Ich möchte dabei schön chronologisch vorgehen, damit ich selbst nicht den Überblick verliere.

      Zu meinem nicht geringen Erstaunen findet sich im Alltag immer wieder ein Kristallisationspunkt, an dem mein Opa den Weg in seine eigene Vergangenheit findet.

      Heute stellt das Fernsehen einen solchen Kristallisationspunkt zur Verfügung. Mein Opa sitzt merklich übel gelaunt vor der Glotze und sieht sich einen Bericht an, der von einem Gefecht in Afghanistan handelt. Ich frage ihn nach den Gründen.

      »Die machen einen Aufriss wegen ganzer dreier Toter. Was denken die sich denn? Wenn alle nach Hause kommen, dann ist es Kindergeburtstag. Krieg ist, wenn nicht mehr alle nach Hause kommen.«

      Aha? Mein Opa, der Menschenschinder.

      »Quatsch. Wir wären froh gewesen, wenn man um unsere Toten auch nur ansatzweise getrauert hätte. Jeden Tag sind die Leute verreckt. Soldaten, Zivilisten, Kinder, alle. Zehntausende jeden Tag. Hat kein Hahn nach gekräht. Wären es nur drei am Tag gewesen, wir wären bis zum Pazifik gekommen. Mann, das wäre schön gewesen.«

      Er scheint in seine Demenz zu versinken, blickt versonnen in die Ferne. Doch das täuscht. Die erste Regel für Altenpfleger lautet: Unterschätze nie einen Demenz-Kranken

      »Ich war zwar der Koch, den Krieg habe ich aber trotzdem gesehen.«

      Er hält seine rechte Hand hoch. Einige tiefe Kerben und Einschnitte sind darauf zu sehen. Komisch, darauf habe ich noch gar nicht geachtet.

      »Granatsplitter«, erklärt er lakonisch. »Auf der Flucht getroffen worden. Wie es sich für einen Elitesoldaten gehört.«

      Er lacht bitter und knetet die Hand.

      »Wir wären froh gewesen, wenn es bei drei Toten geblieben wäre.«

      2.

      Westungarn, die Schlacht am Plattensee.

      Johann sah das Unglück kommen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Deutschen mussten den Himmel fürchten, denn die eigene Luftwaffe existierte praktisch nicht mehr. Von daher galt ein schwer verhangener Himmel als eine Art Lebensversicherung. Bis zu diesem Tag. Lautes, tiefes Brummen kündigte den Tod an. Die überall ungeordnet kauernden Soldaten schauten müde auf, die allgemeine Erschöpfung hinderte sie an weiterführenden Reaktionen.

      Johann hatte nicht kämpfen müssen, er verfügte noch über die nötigen Reserven. Er schaute prüfend zu den Wolken hoch, schätzte die Situation ein und entschloss sich zu einem kleinen Spaziergang. Die Kompanie lag auf freiem Feld, nur von einer kleinen Welle geschützt, die dem vorrückenden Feind die Sicht nahm. Etwas weiter hinten gab es einen Bach, der sich tief in den Mutterboden eingeschnitten hatte. Dieses Bachbett kam Johanns Vorstellung von einem Schützengraben ziemlich nahe. Er nahm sich zwei Kanister und ging nicht langsam und nicht schnell zum Bach.

      Keine zwanzig Schritte später begann der Überlebenskampf. Russische Schlachtflugzeuge sanken aus der Wolkendecke und begannen nach wenigen Sekunden den Anflug auf ihr Ziel. Johann spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten und ein Prickeln den Rücken hinunterlief. Nach wenigen Wochen an der Front verfügte er bereits über die notwendigen Instinkte und körperlichen Symptome, die es für ein Überleben brauchte. Das Prickeln stellte sich nur bei absoluter Lebensgefahr sein. Zum Überlegen gehörte gleichermaßen eine rasche Reaktion. Er ließ augenblicklich die Kanister fallen und nahm die Beine in die Hand. Hinter ihm teilten sich die Soldaten in jene, die keine Kraft mehr zum Überleben hatten, und jene, die nicht einfach abgeknallt werden wollten. Erstere warfen sich einfach auf den Boden und gaben ihr Schicksal in Gottes Hand. Letztere rannten, was die müden Knochen noch hergaben.

      Johann besaß durch sein vorausschauendes Handeln einen kleinen, aber entscheidenden Vorsprung. Er rannte vielleicht acht oder zehn Sekunden, in denen das Brummen lauter und aggressiver wurde. Ein leichter Pfeifton kündigte das Kommende an. Der Pfeifton kam immer dann, wenn die Piloten ihre Propeller-Flugzeuge etwas nach vorne drückten, um über die lange Motorhaube ihre Ziele anvisieren zu können. Lautes Bollern ertönte, die großkalibrigen Kanonen feuerten.

      Die ersten Einschläge ließen den Boden zittern, als Johann mit einem Hechtsprung in das Bachbett eintauchte, sich überschlug, Wasser schluckte, im Lehm stecken blieb. Die gegenüberliegende Seite zerplatzte unter den Einschlägen einiger Granaten und deckte Johann mit feuchten Lehmbrocken

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